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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Die judenbuche - die quelle:


1. Drama
2. Liebe

Unter dem Titel »Geschichte eines Algierer-Sklaven« veröffentlichte August von Haxthausen, ein Onkel der Droste, 1818 die seltsame Geschichte eines Judenmörders und Selbstmörders in der Göttinger Zeitschrift »Wünschelruthe«. Eine später vom Autor angefertigte Abschrift bietet vereinzelt Abweichungen von diesem Druck. August von Haxthausen stützte sich möglicherweise auf heute nicht mehr erhaltene Gerichtsakten. Er berichtet, daß die Juden den Baum, unter
dem das Verbrechen geschah, mit hebräischen Schriftzeichen kennzeichneten: der Mörder solle keines rechten Todes sterben. Die schicksalhafte Erfüllung dieses Satzes mag der Anlaß gewesen sein, die »Geschichte eines Algierer-Sklaven« aufzuzeichnen. Der Tradition eines aktenmäßigen Kriminalfall-Berichtes entspricht die Wahrheitsbezeugung zu Beginn der Geschichte. Gemäß dem Charakter der »Wünschelruthe« ist aber mit einer poetischen Gestaltung des Berichtes zu rechnen. Hinweis könnte auch die möglicherweise zahlensymbolische Verbindung von Mord und Sühne sein. Der Jude wird mit 17 Schlägen getötet und 17 Jahre verbringt sein Mörder im eigentlichen Elend.

Die im »Morgenblatt« verdruckte hebräische Schrift wurde korrigiert nach Richard Hauschild. Weiterhin wurde die Jahreszahl am Ende der Erzählung in 1789 korrigiert. Im Erstdruck findet sich an dieser Stelle die Jahreszahl 1788. Da Mergel jedoch am Vorabend des Weihnachtsfestes 1788 zurückkehrt, kann er sich nicht im Herbst 1788 erhängen. Neuere
Ausgaben korrigieren deshalb meist in 1789. Daneben ist der Vorschlag gemacht worden, das Jahr der Heimkehr Mergels in 1787 zu ändern. Es kann jedoch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, daß auch in der dem Erstdruck zugrundeliegenden Reinschrift der
Droste an beiden Stellen 1788 stand. Im Entwurf war das Verbrechen nicht nur durch den Ort und den gezeichneten Baum mit seiner Sühne verbunden, sondern überdies auch durch die Zeit. Während im Erstdruck die Jahreszeit beider Ereignisse nicht mehr völlig übereinstimmt, sind in dem älteren Entwurf Judenmord und Selbstmord auf den 28. Oktober datiert. Die Einführung einer solchen Schicksalszeit (dies fatalis) in die Schicksalstragödie hat man früher Tieck zugeschrieben. In seinem Drama »Karl von Berneck« fällt Walther von Berneck an dem Tage im Zweikampf, an dem die Burg gegründet wurde und an dem das Gespenst des Gründers umgeht. Es ist der 24. Juni, der Johannistag, an dem sich nach dem Volksglauben von jeher allerhand Unerklärliches ereignet. Auch der 28. Oktober besitzt im Volksglauben eine ähnliche Bedeutung. Er ist der Tag der hll. Simon und Judas (Thaddäus) und gilt im allgemeinen als Unglückstag, vgl. auch Schillers »Wilhelm Tell« I,1: . »s\' ist heut Simons und Judä, / Da rast der See und will sein Opfer haben.« Möglicherweise kommt der Zahl 28 in der »Judenbuche« nicht nur als Datum in einer Vorfassung eine besondere Bedeutung zu, denn im Erstdruck wird der Zeitraum von 28 Jahren an drei Stellen ausdrücklich genannt. Unmittelbar vor der Rückkehr Mergels am 24.12.1788 heißt es: Eine schöne, lange Zeit war verflossen, achtundzwanzig Jahre, fast die Hälfte eines Menschenlebens (49,1 f.), den gealterten Gutsherrn charakterisiert die Dichterin mit den Worten: noch immer mit den hellen Augen und dem roten Käppchen auf dem Kopfe wie vor achtundzwanzig Jahren. (52,27-29), und schließlich kommentiert sie die Suche nach dem erneut verschwundenen Friedrich Mergel mit den Worten: ihn lebend wiederzusehen, dazu war wenig Hoffnung, und jedenfalls nach achtundzwanzig Jahren gewiß nicht (58,5-7). Nicht nur die Heraushebung eines Jahrestages als Schicksalszeit, zu der alle wichtigen Ereignisse geschehen, sondern auch die Betonung eines schicksalhaften Zeitraumes, in dem sich die Handlung abspielt, ist aus den romantischen und nachromantischen Schicksalsdichtungen bekannt. In der Tragödie »Der vierundzwanzigste Februar« (1815) von Zacharias Werner, einem Werk, das die Droste nachweislich gut gekannt hat, sind die verhängnisvollen Taten in einem zeitlichen Rahmen von 28 Jahren eingegrenzt. Kuntz, die Hauptperson der Tragödie, verübte vor 28 Jahren am 24. Februar um Mitternacht einen Mordanschlag auf seinen Vater. Nach sieben Jahren (am 24. Februar) ermordete der siebenjährige Sohn Kurt seine zweijährige Schwester. Kurt stirbt durch die Hand seines Vaters nach 28 Jahren, selbstverständlich am 24. Februar um Mitternacht: »Einst - heut sind es akkurat / Achtundzwanzig volle Jahr, / Seit die fluchbeladne Tat / Sich begab - Glock zwölf es war«. Es ist möglich, daß auch die Droste für Mord und Selbstmord unter der Judenbuche einen bestimmten zeitlichen Rahmen schaffen wollte und daß sie darum gegen Ende ihrer Erzählung den Zeitraum von 28 Jahren besonders hervorhebt. So ließe sich auch die aus der Chronologie der Ereignisse herausfallende Jahreszahl 1788 am Schluß des Erstdruckes erklären. Friedrich Mergel war am 24. Dezember des Jahres 1788, 28 Jahre nach dem Judenmord im Oktober 1760, heimgekehrt. Im Widerspruch zu diesem vorausgehenden Datum gibt der Erstdruck für den Selbstmord die Zeit des Septembers 1788 an. Folgt man aber der letzten Zeitangabe, so sind Verbrechen und Sühne durch 28 Jahre
voneinander getrennt, was nach der ausdrücklichen mehrfachen Erwähnung dieses Zeitraumes geradezu als beabsichtigt erscheinen muß.

Der Erstdruck des einzigen vollendeten Prosawerks der Droste erschien in sechzehn Fortsetzungen vom 22. April bis zum 10. Mai 1842 in Cottas angesehenem und weitverbreitetem Morgenblatt für gebildete Leser. Obwohl sich keine Manuskriptreinschrift erhalten hat, muß dieser Druck als autorisiert gelten, zumal er nach einem brieflichen Zeugnis der Dichterin - bis auf geringfügige Änderungen durch Levin Schücking (der die Drucklegung ohne Wissen der Droste veranlaßt hatte) und den Redakteur Hermann Hauff (auf dessen Vorschlag der Titel zurückgeht) - »Wort für Wort« korrekt ist. Noch in demselben Jahr erfolgte ein Nachdruck in der Zeitschrift Westfälischer Anzeiger (1. Juni bis 13. Juli 1842), ehe Schücking 1859, also elf Jahre nach dem Tod der Dichterin, den Text erstmals zusammenhängend veröffentlichte. Paul Heyse und Hermann Kurz nahmen das Werk 1876 in ihre kanonbildende Sammlung Deutscher Novellenschatz auf; erst damit setzt die bemerkenswerte Rezeptionsgeschichte ein, die durch ein ständig zunehmendes Interesse des Lesepublikums und eine sich bis in die Gegenwart fortsetzende, in Art und Umfang einigermaßen singuläre wissenschaftliche Diskussion gekennzeichnet ist. Bisher erschien die bislang in acht Sprachen übersetzte Judenbuche in etwa 160 verschiedenen Ausgaben,
worunter die seit 1884 im Programm der Reclamschen UniversalBibliothek vertretene Edition hinsichtlich der Verbreitung (vor allem in den Schulen) einen besonderen Rang einnimmt. Die Forschung hat es inzwischen auf mehr als 130 Beiträge gebracht. Angesichts dieser Zahlen kommt den die Vielfalt und Divergenz der Meinungen referierenden und kritisch diskutierenden Kommentaren besondere Bedeutung zu: Daß solcherart Besinnung auf Facta und Realia und zudem für sich sprechende Warnung vor alexandrinischer Überbordung eines Themas die Lust an immer neuen Deutungsversuchen und Einzeluntersuchungen indes nicht im geringsten mindern konnten, erweist exemplarisch das Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie (Bd. 99, November 1979), das ausschließlich der Judenbuche gewidmet ist und auf 168 Seiten zwölf neue Beiträge bietet.
Gewiß provoziert die Judenbuche nicht nur ein ungewöhnliches stoffliches Interesse durch den historisch verbürgten Kriminalfall, das westfälische Dorfmilieu und das mannigfach gebrochene Zeitkolorit, sondern vor allem auch disparate Deutungen, und zwar durch die scheinbare oder wirklich gegebene Dunkelheit oder Mehrdeutigkeit, in der die entscheidenden Vorgänge >hinter der Szene< ablaufen, sowie die ebenso ungewöhnliche wie die Erzähltraditionen ihrer Entstehungszeit anscheinend weit überflügelnde Modernität dieser Erzählhaltung überhaupt. Dennoch liegt es nicht nur an der Dichterin, daß sich nach einem Wort Turgenjews der um Erkenntnis bemühte Leser »so hin und her gezerrt« fühlt. Vielmehr sind es die inzwischen fast unübersehbar gewordenen, nur noch schwerlich korrelierbaren, meist sehr selbstsicher anmutenden Interpretationsansätze, die zu einer Verwirrung über das Werk beitragen, zumal sich die Interpreten in der Regel nur selten auf mehr als eine vorgängige Deutung beziehen. Einige Grundlinien der wissenschaftlichen Rezeption sollen im folgenden kurz skizziert werden. Aus dem 19. Jahrhundert verdienen vornehmlich die Urteile der Schriftsteller Beachtung. Die Droste selbst erhielt außer einer recht begeisterten Zustimmung aus dem Bekanntenkreis nur Kenntnis eines allgemeinen Lobes durch Karl Simrock und Adele Schopenhauer, die indes bemängelte, daß »die Hauptmomente [. . .] nicht scharf genug« vorträten. 1869 rühmte Iwan Turgenjew »Kraft« und »grelle Anschaulichkeit«: »Nur wird die Handlung bald so hin und her gezerrt, daß man am Ende nicht recht klug aus der ganzen Geschichte wird.« Ein Jahr später betrieb Paul Heyse zwar vehement gegen verschiedene Widerstände die Aufnahme der Judenbuche in seinen Novellenschatz, schränkte aber im Blick auf die »Dunkelheit ihres Stils« ein, sie sei »nicht so ohne Fragezeichen genießbar«, während Theodor Storm gleichzeitig nicht weniger als dreimal auf den Abdruck drängte. Theodor Fontane urteilte 1890 brieflich:

Natürlich ist alles stimmungsreich und wirkungsvoll, solch Inhalt
muß wirken, aber das Maaß der Kunst oder gar der Technik ist
nicht hervorragend. Eigentlich enthält die Judenbuche zwei
Geschichten [. . .]; die Geschichte mit dem Onkel hätte, nach
meinem Gefühl, verdient zur Hauptsache gemacht zu werden und die
Judengeschichte wäre dann ganz fortgefallen, wollte Annette aber
lieber diese bringen, was auch vieles für sich hat, so mußte das
Voraufgehende mit dem Onkel nur ganz kurze Etappe sein, nicht
aber Concurrenzstück.

In fast all diesen Resümees mischen sich also Aufmerksamkeit oder Begeisterung mit Tadel, der sich an der mangelnden Klarheit der Darstellung, des Aufbaus oder der Proportionen entzündet und so ex negativo ein Bild des zeitgenössischen Erwartungshorizonts en miniature zeichnet, den die Droste zweifellos verwirrt - oder besser: aufgesprengt - hat. Das erkannte als erster Paul Ernst, der 1904 ein ausführliches und hervorragend interpretierendes »Schlußwort« zur

Judenbuche verfaßte:

Wir haben also in Annettes Werk das Ergebnis einer unbeab-
sichtigten Tätigkeit der künstlerischen Vorstellungskraft vor uns,
welche das wirkliche Geschehnis in der Erinnerung verblassen
läßt und ein neues erfindet, teils aus dem sittlichen Bewußtsein der
Dichterin heraus, teils mit Abrundung, Begründung, Ausgestaltung
und Vertiefung zu künstlerischen Endzielen [. . .] wie ohne ihren
bewußten Willen, durch die ungewollte Tätigkeit der Vorstellungs-
kraft, im Lauf der Jahre in ihr sich ein noch ganz roher Stoff in einen
Novellenstoff verwandelte [. . .]. Dazu bedenke man noch, daß [. . .]
ihr bewußtes künstlerisches Wollen ganz gering war, und daß man
sie deshalb [. . .] als Dilettantin bezeichnen muß. So haben wir also
hier ein ganz merkwürdiges Beispiel für das Eigenleben der

künstlerischen Form.

Die eigentlich germanistische Forschung sollte noch Jahrzehnte brauchen, bis sie die Qualität dieser Darstellung erreichen oder gar übertreffen konnte. Die frühen, zunächst fast ausschließlich quellenkritisch und kommentierend ausgerichteten Arbeiten sind heute sämtlich überholt: Die Eruierung der schriftlichen Quelle und relevanter Realia sowie die textkritische Edition aller Vorstufen und Lesarten sind erst - dann jedoch auch so gut wie abschließend - durch die Bücher Heinz Röllekes (1970) und Walter Huges (1977) geleistet, und seither werden diese Grundlagen fast durchweg in den Interpretationen hinreichend berücksichtigt. Das hatten die in Einzelheiten vorarbeitenden Werke von Felix Heitmann (1914) und Karl Schulte Kemminghausen (1925) leider nicht bewirkt, so daß bis zum Beginn der siebziger Jahre die darauf (oft aber eben nicht einmal darauf!) basierenden Untersuchungen in vielen grundlegenden Einzelheiten in die Irre gingen. Als insgesamt relevant können aus diesem Zeitraum wohl nur noch genannt werden Friedrich Gundolfs innovierende Hinweise u. a. auf die Verwandtschaft der Judenbuche mit den Schicksalsdramen (1931), Emil Staigers einfühlsame Sinndeutung mythisch-alttestamentarischer Strukturen vor dem Hintergrund des Drosteschen Gesamtwerks und einer weithin überzeugenden Anthropologie der Spätromantik (1933), die ersten einläßlichen Einzelinterpretationen von Benno von Wiese und Walter Silz wegen ihrer gattungsspezifischen, letztlich aber immer noch nicht befriedigend beantworteten Fragestellungen (1954), Heinz Röllekes erstmals konsequent auf die theologische Dimension der Judenbuche abhebender Beitrag (1968), zu dessen Ansatz fast alle folgenden Aufsätze kritisch-skeptisch oder affirmativ Stellung nehmen, sowie ganz besonders die ein Jahr zuvor erschienene Studie Heinrich Henels, der den »Sinn der Novelle eben in ihrer Dunkelheit« sieht und die so ungewöhnlichen Divergenzen der Interpretationen im Detail wie im Grundsätzlichen als unvermeidlich, weil letztlich von der Droste intendiert auffaßt. In der Folge haben viele Autoren diese These weiter abzusichern und zu konkretisieren versucht - am weitesten geht dabei augenscheinlich Maruta Lietina-Ray, die, auf den Henelschen Ansatz gestützt, in einer Art Kreisbewegung sogar zu ganz frühen Positionen der Forschung zurückkehrt und eher in Johannes als in Friedrich den Judenmörder zu sehen geneigt ist. Dies ist nur ein Beispiel für die gerade durch Henel eröffnete Spannweite und die dadurch gewonnenen neuen Möglichkeiten der augenblicklichen Diskussion, die sich nicht nur weiterhin vertieft um die Bedeutung der Geschehnisse bemüht, sondern sich auch verhement wieder an der Frage nach deren Ein- oder Mehrdeutigkeit selbst entzündet. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß der erst in jüngerer Zeit ins Spiel gebrachte Versuch, mit Hilfe der handschriftlichen Vorfassungen und Varianten den Gang der Handlung und entsprechende Intentionen sicherer erkennbar zu machen, faktisch in Einzelheiten und methodisch insgesamt schon wieder in Frage gestellt wird. Solch ständig neues Öffnen der Diskussion ist ein Zeichen für die Lebendigkeit und die wissenschaftliche Aktualität der Judenbuche wie eben auch ein besonderes Verdienst der Einsichten und Thesen Henels. Im übrigen vertreten fast alle jüngeren Interpretationen sehr verschiedenartige Ansichten, weil ihr Erkenntnisinteresse nur selten einen übereinstimmenden Ansatz zeigt. Die folgende Kurzcharakterisierung muß daher mit einigen Vereinfachungen arbeiten; sie stellt eine Auswahl aus dem neuesten Schrifttum seit der forschungsgeschichtlichen Zäsur von 1970 vor und kann nur einer ersten Orientierung dienen.
Benno von Wiese konzentriert seine gegenüber 1954 genauer verfahrende Interpretation auf die Entwicklung Friedrichs zum Mörder, kann dabei aber einen Widerspruch nicht ganz vermeiden, wenn er die Position Gundolfs oder Röllekes (»Erzähltes Mysterium«) zwar grundsätzlich anzweifelt, am Ende aber doch ausdrücklich das »Geheimnis« und »das Mysterium des Bösen« als konstitutiv herausstellt.
Radikal, wenn auch stillschweigend, ist Clemens Heselhaus von seinem früheren, Hermann Pongs verpflichteten Ansatz einer seins-tragischen Deutung (1943) zugunsten der Betonung des Halluzinativen (1971) abgerückt, während er neuerlich Sprache und Rolle der Frau thematisiert. Unter den zahlreichen soziologisch oder sozialpsychologisch verfahrenden Beiträgen sind vor allem hervorzuheben: Winfried Freunds Überlegungen zum »Außenseiter« Mergel und Ronald Schneiders methodisch überzeugend zwischen »bewußte[r] Gestaltungsabsicht und unbewußte[r] Problemartikulation« unterscheidende Darstellung einer Suche nach individueller und sozialer Identität. Zuvor war Schneider (1976) erstmalig und mit gut abgesicherten Ergebnissen der längst überfälligen, aber bis dahin nur gestellten Frage nachgegangen, die sich aus der ursprünglich geplanten Einbindung der Judenbuche in die Westfalen-Schrift der Droste ergibt. Er entwickelte
dabei stringent eine Art Raum- und Zeitkoordinatensystem, dessen Daten und Bedeutungen er aus den Charakterisierungen u. a. des Münsterländers (»Religiösität«, »Rechtlichkeit«, glücklicher »Entwicklungsrückstand«) und eben des in der Judenbuche gezeichneten Paderborners (vorchristlich, böse, revolutionär, ja sogar raubtierhaft, teuflisch) gewinnt; die zeitliche Komponente ist dabei kompliziert zu handhaben, da von ganz verschiedenen Datierungen auszugehen ist: Der tatsächliche Kulminationspunkt (Judenmord) wurde durch die Droste von 1783 auf 1760 zurückdatiert, wobei zudem natürlich die bewußt und vor allem auch unbewußt eingebrachten Sehweisen der Entstehungszeit der Judenbuche (um 1840) berücksichtigt werden müssen. Ähnliches gilt für die Beurteilung der Klasseninteressen, die sich aus historischen und seinerzeit aktuellen Aspekten, aus der Zugehörigkeit der Dichterin zum herrschenden Adel und ihrem erkennbaren Bemühen um Objektivität mischen. Die >sozialkritische< Studie von Rudolf Kreis verfährt in dieser Hinsicht gewiß zu einseitig, während Helmut Koopmann inmitten dieser sich vielfältig und verwirrend mischenden Akzentuierungen einen festen Standpunkt gewinnt, indem er sich vorbildlich textnah und erstaunlich ergebnisreich an die Eingangspassage über das »äußere Recht« und das »innere Rechtsgefühl« hält (4). Als Friedrich zur Beichte will, ist sein inneres Rechtsgefühl noch unangetastet; als er die Beichte unterläßt, beginnt er unaufhaltsam die »innere Schande der äußern vorzuziehen« (36). Dabei entgehe er zwar dem mangelhaften »äußeren Recht«, doch im Selbstmord erweise er letztlich selbst die Mächtigkeit des »inneren Rechtsgefühl[s]«. Zweifel darf man aber wohl anmelden, wenn Koopmann - seinem Ansatz konsequent getreu - ausgerechnet den Selbstmord mit all seinen in den Augen der Droste doch gewiß fürchterlichen Fragwürdigkeiten und höchst gewichtigen Folgen als jedermann befriedigenden Triumph des Gewissens und der innersten, moralischsten Rechtsinstanz auffaßt. Ein ähnlich hohes Maß an Stringenz erreichen neben Schneider und Koopmann unter den neueren Interpreten vor allem Bernd Kortländer und Walter Huge, die das gewichtige Boileau-Zitat der Droste »Levrai n'est pas toujours vraisemblable« (48) besonders beachten. Jener präzisiert anhand dreier überzeugend gewählter Einzelbeispiele den Ansatz Henels, indem er ihn zugleich einschränkt, und resümiert, »daß bestimmte zwischen Vorstufen und Druck [der Judenbuche] liegende Schreibvorgänge Teil einer Strategie sind, die das Ziel verfolgt, eine Vielzahl häufig gleichwertiger Deutungsmöglichkeiten zu eröffnen«; dieser geht vom Rätsel des Verbrechens aus, das jede Kriminalgeschichte bietet und das die Droste durch die Konstruktion der »unwahrscheinliche[n] Wahrheit« aufbaut. Die gattungsspezifisch ausgerichteten Untersuchungen konzentrieren sich überhaupt neuerlich nicht mehr auf die Judenbuche als Novelle, sondern als »Kriminalgeschichte«, wozu nach dem Vorgang Winfried Freunds (1969) neben Huge besonders Winfried Woeslers besonnene und die gegenwärtigen Rezeptionsmöglichkeiten unter diesem Aspekt überzeugend herausarbeitende Deutung beiträgt.

 
 

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