4.1 Textimmanente Betrachtung>
4.1.1 Die neuen Leiden des jungen W.
"Die neuen Leiden des jungen W." schildern in Form einer Filmerzählung, 1973 im Hinstorf Verlag in Rostock als Roman erschienen, ein zeitgenössisches "Wertherschicksal" in der DDR.
Der Hauptcharakter und Einzelgänger Edgar Wibeau, ein zunächst strebsames, vorbildhaftes und erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft gibt nach einem Konflikt mit seinem Ausbilder Flemming seine Lehre auf. Auslöser ist eine Auseinandersetzung mit dem Meister, da dieser seine Lehrlinge mit arbeitsintensiven Tätigkeiten beauftragen muß, die maschinell hätten verrichten werden können. Nachdem Edgar seinem Ausbilder aus Protest eine Grundplatte auf den Zeh hat fallen lassen, wird sein Verhalten sogar von der Mutter kritisiert, die tradierten Ausbildungsmethoden werden allgemein gerechtfertigt. Rückblickend stellt Edgar außerdem im Hinblick auf die Familiensituation fest, daß es ihm mißfällt, als "lebender Beweis dafür rumzulaufen, daß man einen Jungen auch sehr gut ohne Vater erziehen kann" .
Im Mittelpunkt des Werkes stehen nun die aufkommenden rebellischen Züge der Hauptperson Edgar, die sich unter anderem in langen Haaren, Popmusik und Jeans widerspiegeln.
Veranlaßt durch Selbstverwirklichungswünsche beschließt er, anfangs zusammen mit seinem Freund Willi, aus der Kleinstadt Mittenberg in eine zum Abbruch bestimmte Laube nach Ostberlin zu ziehen.
Hier findet er - bezeichnender Weise auf der Toilette - eine Reclam Ausgabe von Goethes "Die Leiden des jungen Werthers", welcher er jedoch anfänglich nichts Positives abgewinnen kann, sondern sie vielmehr salopp kommentiert:
Dieser Kerl in dem Buch, dieser Werther, wie er hieß, macht am Schluß Selbstmord [...], weil er die Frau nicht kriegen kann, die er haben will, und tut sich ungeheuer leid dabei.
Sein Verständnis ändert sich jedoch, als er die Kindergärtnerin Charlie kennenlernt und sich in sie verliebt. Er nutzt nun Werther-Zitate als Ausdruck seiner eigenen Gefühle, die er seinem inzwischen nach Mittenberg zurückgekehrten Freund Willi in Form von Tonbandkassetten zuschickt. Im weiteren Verlauf der Handlung, in der ihn seine Leidenschaft zu Charlie immer unglücklicher macht, kann er sich schließlich mit Goethes Titelfigur identifizieren und sieht dessen Leiden als Spieglung seiner eigenen Situation.
Ich war jedenfalls fast so weit, daß ich Old Werther verstand, wenn er nicht mehr weiterkonnte.
Zur vorübergehenden Trennung von Charlie und Edgar kommt es, als ihr Verlobter Dieter, ein strebsamer Germanistikstudent, auftritt.
Aus Geldnot beschließt Edgar, einer Arbeit nachzugehen, ohne jedoch seine individuellen Eigenarten aufzugeben oder sich kritiklos anzupassen. Er schließt sich einer Malerbrigade an, wird aber auch hier schnell zum Außenseiter. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes mit seinem Vorarbeiter Addi entsteht Edgars Traum, sich durch die Erfindung eines nebellosen Farbspritzgerätes vor der Brigade und vor seinen übrigen Bekannten profilieren und bestätigen zu können:
Und dann, wenn sie funktioniert, meine Spritze, wollte ich lässig wie ein Lord bei der Truppe aufkreuzen.
Mit der Konstruktion dieser "Spritze" verbindet er außerdem die Hoffnung, seine privaten Probleme lösen und nach Mittenberg zurückkehren zu können.
Doch Edgars Träume werden dadurch zerstört, daß seine Laube als unbewohnbar erklärt wird und in einer Frist von drei Tagen abgerissen werden soll. Außerdem kündigt sich auch seine Mutter an, die von Willi die Adresse der Laube erfahren hat. Dieser Zeitdruck zwingt ihn dazu, Sicherheitsmaßnahmen zu vernachlässigen. Wegen eines defekten Transformators und eines unbrauchbaren Klingelknopfes, wird eine zu hohe Spannung in der Konstruktion erzeugt, so daß der elektrische Schlag beim Einschalten der Maschine für Edgar tödlich wirkt.
4.1.2 Die Erzählperspektive
Im Gegensatz zu der herkömmlichen Form eines Theaterstückes bzw. einer Erzählung, setzt Plenzdorf eine sehr unkonventionelle Darstellungstechnik ein:
Es werden drei Informationsebenen deutlich. Am Anfang stehen drei Todesanzeigen und eine Zeitungsnotiz, als Dokumente für einen "tragischen Unfall" . Eine weitere Ebene stellt die szenisch-dialogische Erinnerungsperspektive dar. Die Hauptrolle spielt hier Edgars Vater, der sich von Mutter und Kind getrennt hatte und nun - nach dem Tod seines Sohnes - dessen Lebenslauf rekonstruiert. Dazu befragt er die Personen, zu denen Edgar in seiner letzten Lebensphase Kontakt gehabt hat.
In einer dritten Perspektive läßt Plenzdorf Edgar - zeitgleich montiert - aus dem Jenseits ironisch und kritisch Stellung nehmen und die Aussagen der Befragten zurückblickend kommentieren. Punktuell werden diese Reflexionen zu inneren Monologen.
Durch die Kommentarebene gelingt es Plenzdorf, Ereignisse gleichzeitig aus zwei Perspektiven darzustellen. Dem Leser kann somit zum einen - aus der subjektiven Sichtweise Edgars - dessen Bestrebung nach Unabhängigkeit und individueller Selbstverwirklichung dargestellt werden, aus der Distanz können sie jedoch zugleich relativiert werden und erhalten eine gewisse Objektivität.
Eine solche Erzählmethode ermöglicht es Plenzdorf, Handlungesabläufe als real und objektiv darzustellen und gleichzeitig eine möglicherweise kritische Einstellung zu der Hauptperson zu schaffen. Sie setzt jedoch auch einen Leser voraus, der die häufig auftretenden Widersprüche zwischen subjektiver Darstellung und distanzierter Objektivierung zu lösen versteht und der aus den daraus resultierenden Fakten ein Gesamtbild erstellen kann.
Festzustellen ist außerdem, daß durch das vorweggenommene Ende und durch die beschriebene Erzählstruktur kein fließender Text vorliegt, in dessen Handlung man sich leicht hineinversetzten kann. Es entsteht beim Leser eher eine Distanz zum Geschehen und unter Umständen auch zur Hauptperson.
4.2 Die Wertherrezeption
Plenzdorf vollzieht auch die Wertherrezeption auf mehreren Ebenen: Es bestehen Parallelen im Titel sowie inhaltlich ähnliche Handlungesabläufe, wie beispielsweise die Dreiecksbeziehung. Des weiteren verwendet Plenzdorf durch die Werther- Zitate direkt Elemente der Goethe - Vorlage.
Für Edgar spielt die Sprache in den Werther - Zitaten eine besondere Rolle. Dadurch, daß sie ihm zuerst fremd und unbekannt ist, ist er von der Ausdrucksweise fasziniert. Die emotionale Sprache des "Sturm und Drang" steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu seiner Umgangssprache.
Edgar möchte die gängigen Sprachmuster der Gesellschaft nicht mehr benutzen, da er vermehrt Zitate aus Goethes Sturm und Drang Werk benutzt. Durch diesen individuellen Sprachstil wird die Absonderung von der Gesellschaft noch deutlicher. Im Umgang mit anderen Menschen setzt er diese Zitate als "Werther - Waffe" ein, ohne sich anfangs für die inhaltliche Bedeutung zu interessieren. Da seine jeweiligen Gesprächspartner mit den Zitaten nichts anfangen können, wirkt die Verwendung gewollt provozierend und wichtigtuerisch. Sie ist Edgars "schärfste Waffe" , mit der er andere schnell aus der Fassung bringen kann.
Werther - Zitate verwendet er auf dem Tonband an Willi oder im Gespräch mir Dieter. Da beide mit den Zitaten nichts anzufangen wissen - Willi bittet um einen neuen "Code" -, empfindet Edgar das Gefühl der Überlegenheit und wird sich seiner eigenen Stärke bewußt. Erfolgreich gelingt es ihm sogar, Charlies Verlobten Dieter damit zu imponieren, obwohl dieser ein Student der Germanistik ist.
Erst nach häufigerem Gebrauch und durch eigene Lebenserfahrung kann Edgar selbst Verständnis für die Zitate gewinnen. Er kann sie nun gezielt anwenden, um seinen Gemütszustand auszudrücken und sich selbst bewußt zu machen. Sie dienen als Selbstreflektion und spiegeln besonders in seinem Verhältnis zu Charlie Gefühle wieder. Charlie ist die einzige, die seine Zitate ernst nimmt und sie zu verstehen versucht.
4.3 Der Jugend - Jargon
Neben Goethes "Werther" findet noch ein zweites literarisches Vorbild einen zentralen Niederschlag in der vorliegenden Plenzdorf - Schrift: der von J.D. Salinger 1951 verfaßte Jugendroman "The Cather in the Rye".
In dem von H. Böll übersetzten Werk "Fänger im Roggen" geht J. D. Salinger als einer der ersten Autoren auf die Probleme und Wünsche junger Menschen ein. Es entsteht die Gattung "Jugendliteratur", die anschließend auch von anderen aufgegriffen wird und bis in die Gegenwart zu Verkaufserfolgen führt, wie das 1995 erschienene Buch "Ein verdammt starker Abgang" von U. Brizzi zeigt.
Salinger paßt die Sprache in seinem Roman an den Slang der Jugend an, um eine Identifikation des jungen Lesers mit der Hauptfigur zu erleichtern. Dieses Mittel wird zu einem wesentlichen Bestandteil der Jugendliteratur.
Edgar empfindet deutlich Sympathien für Salingers Ich-Erzähler Holden Caulfield.
Wie er da in diesem nassen New York rumkraucht und nicht nach Hause kann, weil er von dieser Schule abgehauen ist, wo sie ihn sowieso exen wollten, das ging mir immer an die Nieren.
Dieses ist darauf zurückzuführen, daß beide sich selbst verwirklichen möchten, die Normen der Erwachsenenwelt sowie ihre Erziehnugsmethoden ablehnen. Beide werden zu gesellschaftlichen Außenseitern, da sie versuchen, eigene Wünsche umzusetzen.
Es ist also deutlich zu erkennen, daß Plenzdorf den Grundkonflikt zwischen jugendlichen Vorstellungen und gesellschaftlichen Normen aus Salingers Werk übernimmt. Des weiteren benutzt er die Form der Jugendliteratur, und paßt die Sprache dem Slang junger Menschen an.
So äußert sich H. Caulfield über einen seiner Lehrer:
Noch deprimierender war, daß er einen trostlosen alten Morgenmantel an hatte, in dem er vermutlich auf die Welt gekommen war oder so. Ich sehe den alten Knaben überhaupt nicht gern in Pyjamas.
Dementsprechend dürften in diesem Sinn Edgars Äußerungen wie z.B. "Ich glaub mich tritt ein Pferd" als "geflügeltes Wort" in die Literaturgeschichte eingegangen sein.
4.4 Zusammenfassung - Autor und Werk in ihrer Zeit
Die beschriebene Erzählweise zeigt den individuellen Schreibstil und den dokumentierenden Charakter seines Werkes (vgl. Seite 9; Abschnitt 4.1.2). Außerdem verstößt Plenzdorf gegen wesentliche Bestandteile damaliger Dichtung, die aus eindeutiger Aussage und Leserlenkung bestehen sollen. Ebenfalls vertritt er nicht das von der Kulturpolitik geforderte Bild eines sozialistisch denkenden Menschen.
Jedoch stimmt er mit jener auch überein, da er den marxistischen Leitgedanken nicht direkt ablehnt. Plenzdorf zeigt sich ferner von klassischer Goethe - Dichtung beeinflußt.
Die Tatsache, das Plenzdorf mit seiner Werther - Rezeption humanistisches Gedankengut verarbeitet und neu interpretiert, kann einerseits als geschickter Schachzug angesehen werden, um die Akzeptanz innerhalb der DDR-Kulturpolitik zu erlangen, andererseits enthält die im verfremdeten Kontext stehende Rezeption auch die aufklärende, kritische Intention Plenzdorfs (vgl. Punkt 6.5). Hier deutet sich erneut der Konflikt zwischen Plenzdorfs kritischer Einstellung und der Zensur in der DDR an. Das "offene Ende" (vgl. Abschnitt 6.4) kann somit auch als Mittel interpretiert werden, die Zensurmaßnahmen zu umgehen.
Durch diese Aspekte können verschiedene Strömungen, Einflüsse und Zwänge aufgezeigt werden, die offensichtlich auf Plenzdorf gewirkt haben.
Zusammenfassend kann nun begründet festgehalten werden, daß Plenzdorf zwar ein eingegliedertes und scheinbar angepaßtes Mitglied des DDR - Gesellschaft gewesen ist, jedoch keineswegs als fremdbestimmtes Produkt dieser Gesellschaft gesehen werden kann.
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