3.1 Interpretation der ersten Sätze />
Auf den ersten Blick sind die eröffnenden Sätze der Erzählung \"Das Erdbeben in Chili\" nicht sonderlich aufschlussreich. \"In St.Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der grossen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken. Don Henrico Asteron, einer der reichsten Edelleute der Stadt, hatte ihn ungefähr ein Jahr zuvor aus seinem Hause, wo er als Lehrer angestellt war, entfernt, weil er sich mit Donna Josephe, seiner einzigen Tochter, in einem zärtlichen Einverständnis befunden hatte. Eine geheime Bestellung, die dem alten Don, nachdem er die Tochter nachdrücklich gewarnt hatte, durch die hämische Aufmerksamkeit seines stolzen Sohnes verraten worden war, entrüstete ihn dergestalt, dass er sie in dem Karmeliterkloster unsrer lieben Frauen vom Berge daselbst unterbrachte\"(S.51)
Der erste Satz macht den Leser vertraut mit Ort und Zeit der Handlung und gibt ihm einen Einblick in die momentanen Geschehnisse, die einen äusserst dramatischen Verlauf nehmen, jedoch ohne dass dem Leser die Hintergründe derselben bekannt sind. Sodann beginnt Kleist die Vorgeschichte zu diesem entscheidenden Ereignis nachzuholen. In zwei Sätzen zusammengerafft wird erzählt von einer verbotenen Liebesbeziehung zwischen dem Hauslehrer Jeronimo und der Tochter seines reichen und adeligen Arbeitgebers, Josephe. Diese Beziehung wird verraten vom Bruder des Mädchens, das daraufhin zur Bestrafung in ein Karmeliterkloster eingesperrt wird, Jeronimo wird sofort entlassen.
Wer jedoch diesem ersten und oberflächlichen Blick auf diese Sätze nicht eine zweite, genauere Betrachtungsweise folgen lässt, erkennt die Wichtigkeit von Kleists Eröffnungsfeuerwerk nicht richtig. In einem ersten Satz wird der Leser unvermittelt in die Vorgänge in St.Jago hineingerissen. Die Geschichte beginnt bereits mit einem Höhepunkt, dessen Herleitung erst später, in Form eines Rückblicks, geschildert wird. Trotz der Grausamkeiten, \"[...]in dem Augenblicke der grossen Erderschütterung vom Jahre1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden[...]\"(S.51,Z.2-5), hat man als Leser genug Distanz zu den Ereignissen, da sie in einer Art geschildert werden, wie es heutzutage in den Nachrichten vorkommt. Diese Entfernung wird aber plötzlich aufgehoben, als man mit der Person des jungen Jeronimo Rugera konfrontiert wird, der sich zu diesem Zeitpunkt gerade erhängen will. Zu der Naturkatastrophe, die einen erschauern lässt, kommt nun auch noch das Schicksal eines namentlich genannten Individuums dazu, das der ganzen Szene einen persönlichen Charakter verleiht.
Auffallend ist auch, wie durch die Naturkatastrophe tausende von Menschen unfreiwillig den Tod finden, im Hintergrund dieses grossen Ereignisses ein Mensch aber willentlich seinen eigenen Tod selbst herbeiführen will. Ein Gegensatz, oder fachlich ausgedrückt eine Antithese, die auch zur Spannung dieses Eröffnungssatzes beiträgt, da sich die Frage stellt ob alles nur ein Zufall ist, oder ob die Geschehnisse nicht doch von einer höheren Macht beeinflusst werden. Denn die Katastrophe kommt Jeronimos eigenen Todesplänen zuvor. Ein Selbstmordversuch ausgelöst, wie wir später erfahren werden, durch die Einwohner von St.Jago und eine gesellschaftliche Norm, die zum Todesurteil von Josephe und zur Inhaftierung Jeronimos geführt hat. Was die anderen für eine Strafe Gottes halten, ist für Jeronimo und Josephe, die gottes Zorn ja erst auf St.Jago gelenkt haben sollen, die Wiedererlangung ihrer Freiheit.
Auf jeden Fall ist die Eröffnung von Kleists Novelle weit mehr als nur eine lapidare Bekanntgabe von Ort und Zeit der Handlung. Vielmehr ist es ein offensichtlich geschickt konstruierter Satz, der bereits zu Beginn der Erzählung die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Sein Interesse ist geweckt durch die nun aufgeworfenen Fragen: Was für Auswirkungen hat das Erdbeben auf den Vortlauf der Geschichte? Was genau wird Jeronimo Vorgeworfen? Weshalb will er sich erhängen und wird er sein Vorhaben auch wirklich vollenden? Bis zur Befriedigung seiner Neugier wird er das Buch nicht mehr so schnell aus den Händen legen, dies ist wohl auch das Ziel einer gelungenen Einführung.
3.2 Interpretation der letzten Sätze
Die Erzählung schliesst folgender Weise: \"Er übernachtete auch bei Don Alonzo, und säumte lange, unter falschen Vorspiegelungen, seine Gemahlin von dem ganzen Umfang des Unglücks zu unterrichten; einmal, weil sie krank war, und dann, weil er auch nicht wusste, wie sie sein Verhalten bei dieser Begebenheit beurteilen würde; doch kurze Zeit nachher, durch einen Besuch zufällig von allem, was geschehen war, benachrichtigt, weinte diese treffliche Dame im Stillen ihren mütterlichen Schmerz aus, und fiel ihm mit dem Rest einer erglänzenden Träne eines Morgens um den Hals und küsste ihn. Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müsst er sich freuen\"(S.68,69)
Donna Elvire nimmt die Nachricht vom Tode Juans mit grosser Trauer auf , was ja nicht verwunderlich ist. Umso erstaunlicher scheint dagegen, dass die Befürchtungen von Don Fernando sich als absolut falsch erweisen. Durch sein langes Zögern würde man eher eine negative Reaktion Donna Elvires erwarten, etwa eine Schuldzuweisung oder ein Wutausbruch. Doch diese trägt den Schmerz wie eine treffliche Dame, wird mit ihrer Trauer alleine fertig und akzeptiert das, was geschehen ist. Mehr noch, sie verzeiht Don Fernando ohne Einschränkung, was sehr gut aus der bildhaften Szene ersichtlich ist, als sie ihm um den Hals fällt und ihn küsst. Beide erklären sich nun einverstanden damit, den kleine Philipp als Sohn zu adoptieren, vielleicht auch um so den schmerzlichen und grausamen Verlust von Juan etwas zu mildern.
Der rätselhafteste Satz ist und bleibt jedoch der Schlusssatz. Er ist so raffiniert geschrieben, dass er in einer Art Schwebe zu hängen scheint. Egal wie man ihn betrachtet, eine wirklich befriedigende Lösung bietet sich nicht an, da es dem Leser verunmöglicht wird, einen klaren Schluss zu ziehen. Hat die Geschichte trotz aller unmenschlichen Ereignisse doch noch einen glücklichen Schluss gefunden oder ist selbst die Adoption von Philipp und somit auch das Weiterleben der Liebe zwischen Jeronimo und Josephe noch als tragisch zu werten?
Die Geschichte endet mit den beiden Worten sich freuen. Darin könnte man den Versuch erkennen, dem Leser ein gutes Gefühl mit auf den Weg zu geben, ihn den Schluss als positiv erkennen zu lassen. Philipp ist zwar ein Kind das in Schande, jedoch aus einer starken Liebe zwischen Jeronimo und Josephe gezeugt wurde. Er ist, mit der Liebe zusammen, die sich in ihm versinnbildlicht, ein Hoffnungsschimmer in einer ansonst zerstörten Welt. Durch ihn überdauert das Gute das Böse, die gewalttätige und ungerechte Welt erlebt eine Art Rechtfertigung, einen Sinn, weiterzuexistieren. Auch die Herzlichkeit die Donna Elvire und Don Fernando ausstrahlen zeigt uns, dass es Menschen gibt, die ihre Menschlichkeit nicht verloren haben. Durch solche Menschen lässt sich annehmen, dass die Welt nicht so schlecht sein kann wie man meint, wenn man sich an die Grausamen Szenen auf dem Kirchplatz erinnert.
Aber es ist auch ein durchaus negativer Beigeschmack vorhanden. Schon die Gefahr, die Philipp darstellt, lässt nichts gutes erahnen. So ist es denkbar, dass die Mörder von Josephe, Jeronimo, Juan und Donna Constanze keine Ruhe geben, bis sie auch den letzten Schandfleck der Stadt, den kleinen Philipp, ermordet haben. Mit ihm zusammen befinden sich auch seine beiden Pflegeeltern in grosser Gefahr.
Das Auffälligste an diesem Satz ist jedoch der Vergleich von Philipp mit Juan und der Schlussfolgerung von Don Fernando, \"...so war es ihm fast, als müsst er sich freuen.\"(S.69, Z.4,5). Diese letzte Aussage wird gleich dreifach gemindert. Zum einen durch den unpersönlichen Ausdruck \"war es\", der durchblicken lässt, dass seine Gefühle nur vage sind. Sie sind wie von einem Nebel verschleiert, so dass er sie nicht klar erfassen kann, sondern höchstens erahnen. Wie soll es da dem Leser möglich sein, einigermassen gesicherte Schlüsse zu ziehen? Auch das Adverb \"fast\" steigert die Verunsicherung nur, denn es ist ihm unmöglich, seine Gedanken und Gefühle in ihrer Ganzheit zu erfassen, er ist eben nur fast dazu imstande. Die Wirkung auf den Leser ist wieder dieselbe, er weiss nicht recht, wie er die Aussage deuten soll. Die Unklarheiten komplett macht schlussendlich der Konjunktiv \"müsst\". Er könnte sich darüber freuen, da er ja mit eigenem Willen darüber entscheiden kann. So aber hat man das Gefühl, als ob ein äusserer Einfluss ihn zur Freude zwingt, obwohl er eigentlich in seinem Innersten ganz und gar nicht glücklich darüber ist.
Da dieser Schluss so undeutlich gehalten ist, undeutlich für Don Fernando wie auch für den Leser, lässt einen die Geschichte nicht recht zur Ruhe kommen. Man wird leicht dazu verleitet, in seinen Anstrengungen den Satz mit Gewalt interpretieren zu wollen, obwohl er überhaupt nicht zu interpretieren ist. Doch eben diese Spannung lässt jeden einzelnen seine Phantasie benutzen, um so für sich selbst auf eine annehmbare Lösung zu kommen. Kleist hat in meinen Augen gut daran getan, den Schluss so rätselhaft zu belassen.
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