Brecht wusste noch nichts vom Abwurf der Atombombe über Hiroshima, als er diese erste Fassung des ,,Leben des Galilei\" schrieb. Seine Zweit- und Drittfassung dieses Buches berücksichtigen diese Tatsache, nicht aber seine erste Fassung. Ich muss daher dieses Buch auch nach diesem Gesichtspunkt hinterfragen, auch wenn es natürlich spannender wäre, dies bei den späteren Fassungen zu tun.
Galileis Vorstellungen über die Möglichkeiten und Chancen der Wissenschaft sind in dieser Hinsicht eindeutig zu blauäugig. Nach seinem Widerruf verurteilt er zwar sich selber, die Wissenschaft bleibt davon aber un¬berührt. Sie kann im Gegenteil Leute wie Galilei in ihren Reihen nicht dulden (vgl. 5.126). Die Wissenschaft bleibt für Galilei der Hoffnungsträger, um die von Unvernunft beherrschte Welt zu verbessern. Galilei sieht zwar, dass immer sozialverantwortlich geforscht werden muss, doch ist das heute nicht mehr ganz so einfach. Die Aufforderung, für die neuen Entdeckungen geradezustehen und diese zum Wohle der Allgemeinheit umzusetzen, das ist heute angesichts der rasanten Wissensvermehrung nicht mehr so einfach wie zu Galileis Zeiten und damit auch nicht analog in unsere Zeit umsetzbar (falls Brecht diese Aufforderung Galileis über¬haupt an unsere Zeit richten wollte). Galilei überschaute die Wissenschaft noch, Newton auch. Aber was be¬deutet Verantwortlichkeit für eine Entdeckung in einer Zeit, wo die Wissenschaftler sich nur noch in einem sehr eng begrenzten Forschungsgebiet auskennen, nicht aber darüber hinaus? Einsteins Entdeckung des E=mc2 führt auf direktem Weg zu Hiroschima und Tschernobyl. Klar war Einstein für diese Ereignisse nicht verantwortlich. Oder doch? Jedenfall ist die Verantwortung der Wissenschaft heute nicht mehr klar definiert, sondern stets ein hoch umstrittenes Diskussionsthema. Wissenschaft ist längst nicht mehr nur Wahrheitbringer und erleichtert längst nicht mehr nur ,,die Mühseligkeit der menschlichen Existenz\"(S. 125), sondern ist immer auch Damoklesschwert, Nutzen und Risiko in einem.
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