Ich war beim Lesen des Stückes angenehm überrascht. Durch "Das Versprechen" war ich einen anderen Stil von Dürrenmatt gewohnt, als der, den ich vorfand. Daß "Der Besuch der alten Dame" und "Das Versprechen" zwei völlig anderen Gattungen angehören ist mir klar, dennoch macht man sich ein gewisses Bild von einem Autor, nachdem man eines seiner Bücher gelesen hat und dieses Bild, sozusagen ein kleines Vorurteil, kann die Erwartungshaltung gegenüber eines weiteren Buches des Autors zumindest z.T. mitbestimmen. Ich muß allerdings sagen, daß ich "Der Besuch der alten Dame" gerne gelesen habe, im Gegensatz zu "Das Versprechen". Die Handlung an sich war durchgehend
interessant und spannend, auch, weil das Stück einen tieferen Sinn hat und sich auch auf heutige gesellschaftliche Probleme bezieht und man gespannt sein dürfte, wie das Stück endet und entsprechend wie der Autor die Gesellschaft sah. Zudem waren die beiden gegenläufigen Bewegungen interessant, auf der einen Seite der moralische Verfall der Stadt, auf der anderen die Selbstfindung Ills.
Allgemein kann gesagt werden, daß das Gesamtbild des Stücks neben der fesselnden Vor- und Haupthandlung durch die z.T. wie bei Claire Zachanassian etwas überzeichneten Charaktere hervorragend abgerundet wird. Zur Intention kann natürlich niemand hundertprozentig genau sagen, welche Hintergedanken Dürrenmatt hatte. Es ist bekannt, daß er einerseits "gerne" die Gesellschaft bzw. deren Fehler kritisierte, was in diesem Stück auf den moralischen Werteverfall abzielen könnte und dessen Beziehung zur Macht des Geldes, die oft mehr im Vordergrund steht als das Leben eines Menschen. Für diese doch sehr plausible Theorie spricht auch das "Gebet" bzw. der Chorgesang am Ende des Stücks, daß die Anbetung des Geldes als eine Art Gott zum Inhalt hat.
Andererseits kann dem Stück ob von Dürrenmatt gewollt oder nicht eine gewisse Ähnlichkeit zu den Vorgehen rund um den Marshall-Plan nicht abgesprochen werden, auch wenn der Autor dies absolut ausschloß. Ebenfalls nicht zu übersehen ist eine gewisse Ähnlichkeit zum Nationalsozialismus, was in diesem Fall bedeuten würde, daß Dürrenmatt das Kollektiv, nicht aber den einzelnen verantwortlich machen würde. Auf den ersten Blick scheint die NS-Zeit etwas abwegig zu sein, was aber durch die Tatsache relativiert wird, daß Dürrenmatt sich unbestreitbar in seinen frühen Werken mit dem Zweiten Weltkrieg und somit natürlich auch mit den Nationalsozialisten auseinandersetzte. Für den Leser ist allerdings eine Diskussion hierüber nicht relevant, da jeder sich ein eigenes Bild über dieses Drama machen wird, über die Handlung und auch über die Intention. Egal, was nun dahintersteckt, Dürrenmatt ist mit dem "Besuch der alten Dame" eine fesselndes und tiefsinniges Drama gelungen, das es wert ist gelesen zu werden und darüber zu spekulieren, ob Claire Zachanassian nun mir zweiten Vornamen Marshall heißt oder nach Dürrenmatt nur das ist, was sie darstellt, "die reichste Frau der Welt."
|