Ferdinand Ürdinger:
Ürdinger ist das Paradebeispiel eines Alkoholikers, dessen Hauptbeschäftigung der übermäßige und uneingeschränkte Konsum von Bier ist. Nicht umsonst hat der Autor wohl den gewichtigen Postboten nach einer bayrischen Schnapssorte benannt. Ürdinger, dessen Motto "Dienst ist Schnaps und Schnaps ist Dienst" lautet, erweist sich naturgemäß als ein begnadeter Wirtshausbesucher und ist somit auch kulinarischen Genüssen nicht abgeneigt. Mit der Gestalt Ürdingers, der mit seinen Schrullen und Eigenheiten ein unverwechselbares Original ist, prangert Brandstetter den engstirnigen Gemütlichkeitsmenschen an. Ursprünglich wegen einer Kriegsverletzung eingestellt, läßt er nichts Schlechtes über die Post kommen; verbissen wehrt er sich gegen den Versuch Post und Bahn zu vergleichen. Er spricht als einziger über seine Vergangenheit und seine Zeit beim Militär, von woher auch seine Vorliebe für die Jagd und das Entwenden von liegengebliebenem Wild herrührt. Er ist politisch konservativ eingestellt und eher für traditionelle Werte zu begeistern. So hält er alle Schulprobleme für gelöst, würde man nur endlich wieder die Prügelstrafe einführen. Für Motorisierung ist Ürdinger nicht zu haben, nur ein altes Waffenrad hält er für erstrebenswert. Wenn es um Ausreden geht, die mangelhafte Postzustellung zu rechtfertigen, zeigt sich Ürdinger, so wie seine zwei Kollegen auch, in der Regel recht erfinderisch. Hauptgrund, warum er die außerhalb gelegenen Häuser so selten angehe, sei sein Einfühlungsvermögen, das ihm verbiete in die Privatsphäre, der offensichtlich ruhebedürftigen Menschen einzudringen. Außerdem machten die nicht domestizierten Hunde auf den Höfen eine regelmäßige Zustellung für den Briefträger zu gefährlich; daß der Erzähler gar keinen Hund besitzt, stört ihn aber nicht weiter. Ürdinger verletzt, ebenso wie seine Kollegen, systematisch das Briefgeheimnis und rühmt sich sogar seiner Fähigkeiten, einen Brief zu öffnen und anschließend so zu verschließen, daß man ihm die Sonderbehandlung durch den Briefträger nicht anmerkt. In nicht mehr ganz nüchternem Zustand gibt Ürdinger auch meistens in diversen Gasthäusern vor der grölenden Zuhörerschaft seiner Freunde besonders delikate und interessante Briefe zum Besten. Ürdinger ist der einzige der drei Postboten, der der Kurrentschrift noch mächtig ist, und stellt somit eine wichtige Stütze im Entziffern und Rezitieren der Briefe dar.
Karl Deuth:
Deuth ist der Gelehrte und Intellektuelle unter den drei Briefträgern. Seine hohe Allgemeinbildung weiß er publikumswirksam zu verwenden, er liebt es seine Kollegen zu belehren und sein Wissen zu präsentieren. Außerdem weiß er durch mehr oder weniger passende Zitate, meist auf Lateinisch, zu bestechen, was ihm Ehrfurcht und Anerkennung seiner Freunde einbringt. Deuth fühlt sich als Künstler und ist der Meinung, er müsse als ein solcher sehr sensibel sein, was mit sich bringt, daß er mehr Zeit im Krankenstand verbringt, als im Dienst. Von seinen Kollegen als kränklich beschrieben, sitzt er während seiner Abwesenheit aber keineswegs zu Hause, sondern fühlt sich berufen, das Brauchtum zu erhalten, indem er an möglichst vielen Bräuchen aktiv partizipiert. Einzig wenn er weiß, daß ihm ein Kontrolleur der Krankenkasse den Besuch antragen möchte, setzt er sich in die Stube und spielt den Kranken. Bemerkenswert an Deuth ist seine Eigenschaft, Ürdinger und Blumauer wie nach Belieben zu kommandieren. Die Initiative zur mutwilligen Zerstörung von Paketen zerbrechlichen Inhalts sowie zur Entledigung von lästigen Postwurfsendungen, indem sie in die Aist geworfen werden, gehen von ihm aus, und seine Kollegen tun es ihm gleich und übertreffen ihn sogar. Der begnadete Dichter reimt dann: "Ein Paket ist wie ein Ball, doch wird's erst rund durch öfteren Fall; Pakete werden geschupft oder mit dem Fuß getupft" . Als Gebildeter sieht es Deuth, der übrigens auch die Heimatchronik führt, als seine Pflicht an, neben den widerrechtlich geöffneten Briefen auch fingierte Schriften anzufertigen, um sie Ürdinger zu seinen Lesungen mitzugeben; daß darin in wenig schmeichelhafter Manier aber von wirklich existierenden Personen die Rede ist, berührt ihn nicht. Deuth ist Sozialist, hat seine politische Gesinnung aber gründlich revidiert, seit ihm erlaubt ist, Führungen durch das Schloß des Freiherrn zu veranstalten. Seither hat er sich sehr gemäßigt und stellt die sozialistischen Ideale seinem Drang nach Anerkennung als intellektuelle Kapazität hintan. Deuth ist eine ängstliche Natur und zieht es bei der geringsten Gefahr vor den Rückzug anzutreten. So ist während der Jagdsaison eine termingerechte Postzustellung äußerst unwahrscheinlich, denn da sitzt der große Meister zu Hause und schreibt an der Chronik.
Franz Blumauer:
Blumauer ist der Ästhet und Frauenheld. Er nützt seinen Beruf geschickt aus, um die Pracher und Fürstenfelder Hausfrauen für sich zu gewinnen. Er gibt vor ein Kenner der menschlichen, aber besonders der weiblichen, Psyche zu sein. Seine Uniform und die Posttasche, verwendet als Repräsentationsstücke; am liebsten möchte er sie auch sonntags tragen, um sich gekonnt in Szene zu setzten und die Frauen zu erobern. Stadtbriefträger, die man aufgrund ihrer völlig überfüllten Posttasche gar nicht mehr erkennen könne, verachtet er, der er das Schöne und Ästhetische im Postboten sieht. Blumauer trägt als einziger der drei Briefträger seine Post mit dem Moped aus, natürlich wieder nur aus dem Grund des um zu gefallen. Er träumt stets von einer Kombination aus seinem Körper und dem Geist Deuths, den er genauso verehrt wie sein Kollege Ürdinger. Mit Deuths Verstand würde er sich nicht mit Pracherinnen begnügen, da würde man ihn schon eher in Monte Carlo oder Hollywood finden. Blumauer der ganz im Gegensatz zu Karl Deuth auf Naturerlebnisse, die für ihn meist Frauengeschichten bedeuten, eingeschworen ist, hat seine speziellen Techniken, um das andere Geschlecht zu gewinnen. Er bedient sich der Methode des Lobens und Preisens, wie er selbst sagt. Ganz nach dem Grundsatz "dreckig reden, nicht sein" stellt sich Blumauer auf die einzelnen Damen ein und versucht zuerst Tonart und Lautstärke des anzustimmenden Lobgesanges herauszufinden. Das alleine müßte ihm schon einen Lehrstuhl für Panegyrik an der Universität einbringe, meint Deuth. Weiß er dann endlich, wie anzufangen, bedient er sich der Werbesprache um Anerkennung und Zufriedenheit zu spenden. Für Blumauer gilt: je einfacher und abgegriffener die Floskel, desto besser. Und so lobt der Postbote die "kuschelweiche" Wäsche, die Gardinen, um die die Hausfrau von allen beneidet wird, und den Sohn, der ein wahrer Prachtkerl sei, "dank Mutti". Manchmal begnügt sich Blumauer aber auch nur den Anstoß zu Eigenlob zu geben und die Betreffende dann mit Ausrufen der Verwunderung weiter zu animieren. Blumauer gehört keiner Partei oder Gruppierung an, was sein Lob für jedermann empfänglich mache. Er hält auch seine eigene Meinung zurück, damit "göttliche Harmonie herrscht, keine Spur von Widerspruch, kein Oppositionsgeist den himmlischen Frieden stört" , wie er sich auszudrücken beliebt.
Andere:
Neben den drei Hauptcharaktern kommen im Roman auch wiederholt andere Personen, wie der zur Fremdenfeindlichkeit neigende Gendarmerieinspektor Naderhirn, die dem Alkohol verfallenen Mitglieder der Blasmusikkapelle, der Tierarzt und sein Freund der Fleischhauer, der zur Unfähigkeit gestempelte Schuldirektor, sowie der kapitalistische Aristokrat Freiherr von und zu Rietbach und Hallershausen vor. Abgesehen vom Kaufmann, dem Bruder des Postmeisters, wird aber keine der Figuren näher charakterisiert. Vom Krämer erfährt man, daß er ein zwar großes Rednertalent, zur Leitung eines Geschäftes aber gänzlich ungeeignet ist. Seine Antipathie gegen bestimmte Waren bringt er mit grundsätzlichen Reden und Vorträgen zum Ausdruck, was natürlich nicht für seinen Geschäftssinn spricht. Andererseits versteht er es zu überreden und unverlangte und nicht benötigte Produkte zu verkaufen.
Erzähler:
Der Erzähler ist ein kritischer Geist, von dem man nur weiß, daß er nahe der Tierkadaververwertung wohnt. Noch weniger ist über den Adressaten der Beschwerde, den Postmeister bekannt; man erfährt nur etwas über seine Mitarbeiter Ürdinger, Deuth und Blumauer.
Erzählform & -perspektive:
Brandstetter gliedert den gesamten Roman in einen Monolog. Er verzichtete dabei sogar auf die Einteilung in Kapitel. Es werden nur in einem fort die Missetaten der drei Briefträger behandelt. Unverkennbar ist dabei der dem Autor eigene Stil, der sich durch gewollte Umständlichkeit und ellenlange Abschweifungen auszeichnet. Typisch für Brandstetter ist die Verwendung des Wörtchens "sagt", bei Gebrauch der indirekten Rede ; das besagte Verb kann bis zu drei- oder viermal in einem einzigen Satz vorkommen, wobei er sicherlich die sprachliche Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit mancher Dorfbewohner vor Augen hat. Der Autor versteht es, durch seinen Stil und die von ihm gewählte Darstellungsform des Monologes, die Abartigkeiten des wenig idyllischen Lebens in Prach, an welchen vor allem die erwähnten Postboten Schuld tragen, satirisch und bisweilen auch sarkastisch wiederzugeben.
Zugang
Der Roman "Zu Lasten der Briefträger" machte den Autor bekannt, seinen etwas eigenwilligen, aber unverwechselbar humorvollen Stil berühmt. Die Werke Brandstetters reihen sich an die, anderer berühmter österreichischer Gegenwartsautoren nahtlos an; sein literarisches Vorbild Thomas Bernhard kann selbst der Autor nicht leugnen. So ist es geradezu die Pflicht eines literarisch interessierten Lesers, Brandstetter wenigsten zu streifen, denn hat er erst einmal einen Roman gelesen, wird er sich auch anderen Bücher Brandstetters nicht mehr verschließen können. Ich habe "Zu Lasten der Briefträger" bereits vor dem Verfassen des Literaturprotokolls zum ersten Mal gelesen und es als Paradeexemplar des humorvollen Erzählens der Gegenwart schätzen gelernt.
Verständnis
Brandstetters Besonderheit, immer wieder lateinische Zitate einzustreuen, überträgt er in diesem Roman der Figur des gebildeten Briefträgers Karl Deuth. Die berühmten Aussprüche antiker Persönlichkeiten können mit Grundkenntnissen in Latein und mit Hilfe eines Wörterbuches übersetzt werden. Dem geringen Teil der Redewendungen, die sich noch immer nicht übersetzten lassen, kann mit dem Zitatenteil des Fremdwörterduden auf den Grund gegangen werden. Ein Fremdwörterbuch empfiehlt sich überhaupt, wenn Deuth seinem Kollegen Blumauer zum Beispiel einen Lehrstuhl für "Panegyrik" anträgt, wenngleich auch solche Ausdrücke nicht oft zu finden sind.
Wirkung
Die Darstellung der drei Originale Ürdinger, Deuth und Blumauer durch den Erzähler wirkt auf den Leser befremdlich bis erheiternd. Die drei Postboten, deren Fähigkeiten oder Unfähigkeiten durch die monolgische Erzählform noch übersteigert werden, ziehen den Unmut des Erzählers auf sich. Wenngleich er auch mit ihnen manches Mal übereinstimmt, bleibt die bestimmende Aussage doch, daß die drei "die Wahrheit lügen würden". Den Autor auf die Kritiken festzulegen, ist schier aussichtslos, da alles über die Post hinausgehende, als die Ausreden und Meinungen der Postboten ausgegeben werden kann. In gewissen Aussagen kommt der Erzähler nicht umhin sich augenzwinkernd mit den Aussagen Ürdingers, Blumauers, besonders aber Deutsch zu sympathisieren, um sich im nächsten Moment aber von den Grotesken und Banalitäten zu distanzieren. Der Leser wird durch die Schilderung der Briefträger, deren Freunde und des Ortes Prach, vor allem köstlich unterhalten.
Wertung
"Zu Lasten der Briefträger" stellt eine ganz besondere Form der unterhaltenden Erzählung dar. Brandstetter stellt sich als einer der schaffensfreudigsten Autoren der Gegenwart dar, und zeigt sich befähigt, den Leser an seiner Sichtweise der Auswüchse unserer Gesellschaft teilhaben zu lassen und ihn dabei oft zum Lachen oder zum Schmunzeln zu bringen. Der Autor ist imstande, dem Wortspiel, mit dem einst Nestroy auf seine unvergleichliche Weise die Zuschauer zu begeistern wußte, in der heutigen Zeit, wenigstens in seinen Romanen, zu der Bedeutung zu verhelfen, die ihm gebührt. Brandstetter weiß mit seinen sprachlichen Mitteln zu bestechen und begeistern. Die bereits beträchtliche Leserschar, zu der auch ich mich zähle, weiß seine Werke zu schätzen und darf sich bei jedem der meist satirischen Romane des Klagenfurter Universitätsprofessors auf ein Leseerlebnis und -vergnügen von gehobenem österreichischen Niveau freuen.
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