Aus meiner Sicht stellt die Beziehung zwischen Michael und Hanna einen Extremfall dar. Es gibt wahrscheinlich nur einige vereinzelte Beziehungen mit diesem Altersunterschied, welche gut verlaufen. Durch den viel zu grossen Altersunterschied war diese Beziehung schon von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Dass sich Michael auf eine solche Beziehung mit Hanna einliess, kann ich aus der Sicht seines körperlichen Verlangens verstehen. Er steckte mitten in der Pubertät und viele Gefühle waren völlig ungewohnt für ihn. Es ist für mich jedoch nicht nachvollziehbar, wie sich Michael von Hanna so hatte unterdrücken lassen. Er musste sich ihr zu Beginn vollkommen unterordnen und tief erniedrigen lassen. Wie konnte er dies aushalten?
Aus der Perspektive von Hanna war es eher verständlich, dass sie die Beziehung mit Michael einging. Hanna war eine reife und erfahrene Frau, die mit attraktiver und kräftiger Figur beschrieben wurde. Durch ihre anmutigen, verführerischen Bewegungen gelang es ihr, ihn in ihren Bann zu ziehen und dadurch seine Gefühle durcheinander zu bringen. Sie war sich der Abhängigkeit, in der Michael von ihr war, vollkommen bewusst. Von Anfang an gibt sie den an Ton und bestimmt, was wie ab zu laufen hat. Nach einer gefühlskontrollierten Anfangsphase lässt auch Hanna ihre Gefühle gegenüber Michael offener zum Ausdruck kommen. Durch ihre Dominanz in der Beziehung versteht sie es, gleichzeitig ihre Schwächen ihm gegenüber zu verbergen, so dass diese nur schwer zu erahnen sind.
Ich nehme an, dass Hanna in einer Beziehung zu einem Mann etwa in ihrem Alter nicht so einfach die starke, dominante Führungsrolle hätte übernehmen können. Es wäre ihre wahrscheinlich auch nicht gelungen ihren Analphabetismus so lange zu verbergen.
Entgegen meiner Erwartung suchte sie wieder den Kontakt zu ihm, als sie im Gefängnis ihre Haft absitzen muss. Der Hauptgrund, warum sie sich so intensiv an den Kontakt zu Michael klammert, war der, dass sie keine Verwandten mehr hatte, die mit ihr den Kontakt pflegten. Dies schilderte die Gefängnisleiterin in ihrem Brief.
Den Grund für den Freitod von Hanna lässt der Autor in diesem Buch unbeantwortet. Dem Leser steht es frei, sich ein eigenes Bild zu machen. Aus meiner Sicht gibt es mehrere Gründe für ihren Freitod.
Einer der möglichen Gründe war, die Angst entlassen zu werden und damit auch ihre festen und starren Tagesstrukturen zu verlieren. Wie ich das in einigen Berichten gesehen, gehört oder gelesen habe, fällt es Häftlingen äusserst schwer, sich von ihrem straff durchorganisierten Tagesablauf zu lösen und wieder selbständig und frei das Leben in die Hand zu nehmen. Obwohl Michael sich bereit zeigte, sie zu betreuen, merkte sie ihm an, dass er dies nur aus Verantwortungsbewusstsein tat. Aus eigener Initiative hätte er kaum eine Wohnung für sie gesucht und sie eingerichtet. Erst als ihn die Leiterin des Gefängnisses mit Nachdruck darum gebeten hatte, ist er darauf eingegangen.
Ein weiterer, entscheidender Grund für Hannas Freitod war, dass sie in eine mehr oder minder grosse Abhängigkeit von Michael gekommen wäre. Dies widerstrebte ihrem Naturell völlig und aus meiner Sicht wäre es für sie eine völlige Demütigung gewesen, in solcher Weise von Michael abhängig zu sein.
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