Das empfindsame bürgerliche Trauerspiel ist bis ca. 1780 populär, bis 1800 gibt es noch vereinzelte Nachzügler. Mit Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" erschien 1772 ein anderer Typus des bürgerlichen Trauerspiels, der sich bis Friedrich Schillers "Kabale und Liebe" (1784) behauptete und dann ein jähes Ende fand. Einiges blieb unverändert: Die Gegenwartsnähe des Stoffes, realistische Wiedergabe des Alltages und Konzentration auf die Probleme des Familienlebens. Der Unterschied ist jedoch wesentlicher: Außer leisen Andeutungen bei den Frauen- und Mädchengestalten gibt es keine Empfindsamkeit mehr, die durch durch die Leidenschaftlichkeit des subjektiven Menschen ersetzt wird. Der Mensch erscheint jetzt primär als Vertreter eines genau fixierten Standes- und Berufsmilieus und ist nicht mehr der moralische Privatmensch in seiner abstrakten Allgemeinheit. Er ist kleinbürgerlicher Handwerker, großbürgerlicher Kaufmann oder Beamter, Landedelmann oder aristokratischer Offizier. Seiner sozialen Lage entspricht jeweils eine kennzeichnende ständisch bedingte Mentalität. Die Charaktere der Menschen resultieren nun aus ihrem Stand, Tugend und Laster werden in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang erfaßt. Aber obwohl die gesellschaftliche Lage bis zu einem gewissen Grad Schicksal wird, ist der Mensch noch nicht vollständig durch seinen Stand und sein Umfeld vorherbestimmt.
Während im bürgerlichen Trauerspiel der Empfindsamkeit bürgerliche und nicht bürgerliche Gesinnung gegenübergestellt wurde, wird nun der Standesgegensatz ausschlaggebend. Dies ist historisch gesehen eine enttäuschte Absage an den sozialpolitischen Utopismus der Empfindsamkeit, der die moralische Überwindung gesellschaftlicher Gegensätze für möglich hielt. Dabei handelt es sich nicht nur um den Gegensatz Mittelstand - Obrigkeit, auch der Mittelstand ist in Adel, hohes und niedriges Bürgertum gespalten. Der Gegensatz der sozialen Schichten ist nun mindestens ein Mitgrund für den tragischen Konflikt. Das Adjektiv bürgerlich ist in diesen Jahren vor allem ständisch zu sehen, wenn auch die ältere Bedeutung noch nachwirkt. Gesellschaftskritisch behandelt wird vor allem die Aristokratie, erst in zweiter Linie das Bürgertum, aus dem ja die Verfasser stammen.
Bei diesen Dramen, die "Emilia Galotti" zum Vorbild haben, ist die Bezeichnung "bürgerliches Trauerspiel" selten, vielleicht, um sie nicht mit den empfindsamen bürgerlichen Trauerspielen zu verwechseln, vielleicht auch, weil die Autoren des Sturm und Drang nicht um definitorische Exaktheiten bemüht waren.
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