Die NS-Epoche ist - historisch gesehen - ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte. Politisch betrachtet jedoch spielt die Überwindung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nach wie vor eine wichtige Rolle. Die nahe Vergangenheit existiert , ob willentlich oder unwillentlich, ob bewußt oder unbewußt, noch immer als ein beträchtlicher Teil des nationalen Hintergrundes und der deutschen Geschichte.
Diese "Erblast" geht als ein wichtiges Fundament in die 1949 entstehende Bundesrepublik ein, ihr eine ungeheure Verantwortung für die Zukunft aufbürdend, nämlich Verhältnisse zu schaffen, um eine Wiederholung oder auch nur Ansätze von Entwicklungen in dieselbe Richtung unmöglich zu machen.
Zahlreiche Deutsche versuchen aber nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes und der Befreiung durch die Alliierten ihre eigene unmittelbare Vergangenheit zu verdrängen und fühlten sich weniger von den Ereignissen im Dritten Reich als vielmehr von den Folgen des Zweiten Weltkrieges betroffen: Flucht, Vertreibung, Besatzung, Hungerjahre usw.
Diesen Zeitgeist der 50er Jahre spiegelt die Kinder- und Jugendliteratur ungewöhnlich lange wider, während die allgemeine Literatur schon bald nach 1945 literarische Zeugnisse für die "jüngste Vergangenheit" vorlegte oder den Auswirkungen des Nationalsozialismus in die unmittelbare Gegenwart nachspürte (Ilse Aichinger, Wolfgang Borchert, Wolfgang Koeppen, usw.).
Erst Ende der 50er Jahre und Anfang der 60er Jahre erschienen Jugendbücher über den
"Widerstand" und die "Judenverfolgung" im Dritten Reich.
Gründe für die langanhaltende Nichtbearbeitung dieses Themas mögen gewesen sein:
. das Bildungssystem folgte nur zu sehr dem Trend zu vergessen und sich dem Wiederaufbau zu widmen
. statt politische Fragen zu behandeln, zog man sich auf moralisch-private Tugenden zurück
. hinderlich war auch, was die Tradition an jugendliterarischen Erwartungsmustern überliefert hatte. Die Erwartungs- und Gewohnheitsmuster, die einerseits wohl auf entwicklungsbedingte Lektüreerwartungen der Kinder und Jugendlichen zurückzuführen waren, in denen sich andererseits aber auch die unpolitischen Ansprüche der Erwachsenen an Kinder- und Jugendliteratur schematisiert hatten, waren nicht gerade prädestiniert zum Aufgreifen des
Themas "Holocaust" und der Auseinandersetzung mit demselben.
(vgl. Dahrendorf, Die Darstellung des Holocaust in der westdeutschen Kinder- und
Jugendliteratur, S. 84)
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