Arnes Nachlaß: Personen In "Arnes Nachlaß" hat es der Leser mit dem merkwürdigen Fall einer Hauptfigur zu tun, die nicht selber das Wort erhebt, sondern nur durch die Erinnerungen ihrer Mitmenschen lebendig wird. Die Figur Arnes bleibt demnach eine Leerstelle. Alle anderen Romanfiguren nähern sich dieser Leerstelle zwar an, letztendlich wird sie jedoch nie ganz ausgefüllt. Und so bleiben Arnes innerste Gefühle und die Motive für seinen Selbstmord letztendlich verschleiert, im Dunkeln. Bildlich gesprochen gruppieren sich Hans, Wiebke, Lars und Hans Vater wie ein Mandala um Arne, die Leerstelle in ihrer Mitte, herum. Jede Figur schildert den Protagonisten aus einer anderen Perspektive, so daß sich schließlich eine Annhäherung, ein quasi-Gesamtbild ergibt. HansHans ist der brüderliche Freund Arnes, dem der Jüngere blind vertraut. Es ist Hans, der das Psychogramm Arnes für uns zeichnet und dabei stets eine gewisse Objektivität bewahrt. Hans bemerkt zwar sehr wohl Arnes Schwäche, seine übergroße Sensibilität, seine Sehnsucht nach Liebe. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern ist er jedoch reif genug, diese Sensibiliät nicht auszunutzen, sondern zu schätzen. Als ältester Sohn steht Hans gewissermaßen über den Dingen und wird im Gegensatz zu seinen jüngeren Geschwistern als Erwachsener behandelt. Die besorgten Eltern schieben ihm sogar einen Teil der Verantwortung für Arne zu: "Sie gaben mir zu verstehen, daß Arne mehr an mir hängt als an allen anderen ... sie waren sicher, daß er unter meinem Einfluß zurückfinden würde zu gewohnter Ausgeglichenheit" (S. 163). Wiebke Wiebke ist zwar im gleichen Alter wie Arne, erscheint im Gegensatz zu diesem jedoch oberflächlich und gefühllos. Sie interessiert sich vor allem für die Einzelheiten des Familienselbstmords und nutzt Arnes Zuneigung dazu aus, ihn ohne Rücksicht auf seine Gefühle danach zu befragen. Hans drückt es so aus: "Da wußte sie, daß du ihr nichts abschlagen würdest, und sie fragte dich zum zweiten Mal, wie das Unglück bei euch zuhause geschah und ob du dich noch an die Zeit erinnern könntest, als du tot warst. (S. 52) In ihrer Clique will Wiebke Arne jedoch nicht haben und auch das Aquarium mit den Fischen, das Arne ihr hinterlassen hatte, will sie zunächst nicht behalten. Zwar hat Wiebke einen Nachmittag mit Arne auf dem Hamburger Dom verbracht, aber nur widerwillig gibt sie zu: "Zuletzt habe ich gemerkt, daß er auch fröhlich sein kann und übermütig, es hat mir richtig Freude gemacht, mit ihm herumzuziehen" (S. 143). Wiebkes Perspektive ist die des weiblichen Teenagers, der sich Arnes Zuneigung gar zu sicher ist. Zu Lebzeiten war Arne ihr nicht cool genug, sein Tod zwingt sie jedoch dazu, ihre Gefühle ihm gegenüber noch einmal zu überdenken. Letztendlich entschließt sich Wiebke, halb trotzig, Arnes Hinterlassenschaft, das Aquarium zu behalten und damit ihre Zuneigung zu Arne zuzugeben: "Ich [Hans] bot ihr an, das Aquarium in mein Zimmer zu bringen, doch Wiebke nahm meine Hilfe nicht an und ließ erkennen, daß sie es leicht trug." (S. 152).Lars Ähnlich wie Wiebke zeigt auch Lars, welchen Eindruck Arne zunächst bei seinen Altersgenossen zu erwecken scheint. In vieler Hinsicht bildet Lars das genaue Gegenstück zu seinem Ziehbruder. Während Arne das Leben zu ernst nimmt, nimmt Lars es zu leicht. Wo Arne sich schon viel zu früh Gedanken über seine berufliche Zukunft macht, ist Lars leichtfertig. Von Hans erfahren wir: "Lars hatte die Schule schon wieder hinter sich, hatte die Ausbildung knallfall abgebrochen, so, wie er auch die Zeit auf der Seefahrtsschule vorzeitig beendet hatte" (S. 73). Lars findet die Anerkennung, die Arne sucht: Er kommt bei seinen Altersgenossen an, ist in seiner Clique der anerkannte Boss. Lars zettelt den Diebstahl der Metallbarren an und versucht skrupellos selbst nach Arnes Tod noch, dessen Sparbuch an sich zu bringen: "Gib das Buch her, sagte ich [Hans]. Lars weigerte sich." (S. 74).Doch auch Lars überrascht uns am Ende des Romans mit einer neuen Sensibilität. Fast scheint es, als habe er mit Arne die Rollen getauscht: "Es waren seine [Arnes] behutsamen Schritte, die sich da näherten, für einen Augenblick gab es keinen Zweifel daran" (S. 205). Doch dann ist es nicht Arne, sondern Lars, der hereinkommt. Und am Ende ist Lars derjenige, der wortlos, weil ihm die Worte fehlen, Arnes Habseligkeiten wieder auspackt und so die Verzweiflung angesichts seines Todes auszudrücken versucht. Harald (Hans Vater) Harald, Hans Vater, kommt zwei Mal in das Zimmer, in dem Hans den Nachlaß verpackt. Der Tod des Jungen scheint ihn nicht loszulassen. Er ist derjenige, von dem wir Einzelheiten über Arnes Familie erfahren. Harald ist hilflos und verzweifelt angesichts der sinnlosen Tat nicht nur seines besten Freundes, sondern auch Arnes, dessen Selbstmord er nicht verhindern konnte. Ein tiefes Verständnis für den Jungen zeigt sich im gesamten Roman: "So war es, sagte mein Vater, so war unser Arne, was er aufnahm, das ging nicht mehr verloren, das besaß er und trug es mit sich herum" (S. 30). Wenn Harald über Arne spricht, spricht damit eine tiefe Lebenserfahrung mit: Der Ziehvater zeigt uns Arne aus der Sicht eines Erwachsenen.
Biographie Siegfried Lenz, der am 17. März 1926 in Lyck, einer kleinen Stadt im masurischen Ostpreußen geboren wurde, zählt seit langem zu den bedeutendsten Autoren der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur.Nachdem Lenz aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, ging er nach Hamburg und studierte Philosophie, Anglistik und deutsche Literaturgeschichte, ehe er 1950/51 als Redakteur für die \"Welt\" arbeitete. Seit 1951 lebt er als freier Schriftsteller in Hamburg. Bereits mit seinem ersten Roman gelang es ihm, die Kritik und die Leser für sich einzunehmen, und bis heute zeichnet sich Lenz\' Werk dadurch aus, daß es menschliche Schicksale und aktuelle gesellschaftliche Fragen auf eine Weise verknüpft, die literarisch ambitioniert die Bedürfnisse breiter Leserschichten nicht vernachlässigt.Weite Teile des Lenzschen Werkes sind geprägt durch die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (etwa die Romane \"Der Mann im Strom\", 1957, oder \"Brot und Spiele\", 1959, einer der wenigen geglückten Sportromane der deutschen Literatur) und mit dem Dritten Reich bzw. seiner Verarbeitung. Zu Lenz\' größtem Erfolg wurde dabei der 1968 erschienene Roman \"Deutschstunde\", der auch international zu einem bahnbrechenden Erfolg wurde. Wie der junge Siggi Jepsen darin die Geschichte seines Vaters, eines norddeutschen Polizisten, der es im Nationalsozialismus für seine Pflicht hält, das Malverbot seines Freundes Nansen zu überwachen, erzählt, ist eine bis heute bestechende Demaskierung eines pervertierten Pflichtbegriffs und wurde von vielen als befreiende künstlerische Auseinandersetzung mit diesem Thema verstanden.Der \"Deutschstunde\" folgten viele große Romane (\"Heimatmuseum\", 1978, \"Der Verlust\", 1981, \"Exerzierplatz\", 1985 oder \"Die Auflehnung\", 1994), die Lenz unverrückbar an die Seite der ,großen\' deutschen Gegenwartsautoren wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser stellten. Sein Werk umfaßt alle literarische Gattungen: Lenz arbeitete für das Theater (\"Zeit der Schuldlosen\", 1961), schrieb Hörspiele (\"Haussuchung\", 1967) und Essays (\"Über den Schmerz\", 1997), und für viele Leser ist er nicht zuletzt ein Meister der \"kleinen Form\". Seine oft humoristisch grundierten Erzählbände wie \"So zärtlich war Suleyken\" (1955), \"Lehmanns Erzählungen\" (1964) und \"Der Geist der Mirabelle\" (1975) belegen dies trefflich.Siegfried Lenz wurde für sein Ouvre mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichnet, darunter der Gerhart-Hauptmann-Preis, der Bayerische Staatspreis für Literatur, der Thomas-Mann-Preis, der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und zuletzt, 1999, der Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main. Seine Auszeichnungen galten dem literarisch unvergleichlichen Werk, und sie rühmten immer auch das unerschrockene Engagement des Autors.
|