Unter dem Oberbegriff Essstörungen werden drei wichtige und eindeutige Syndrome beschrieben: Anorexia nervosa (Pubertätsmagersucht), die Bulimia nervosa (Bulimie oder Ess-Brecht-Sucht) und Binge Eating Störung (Fressanfälle). In der Schweiz leiden ca. je 2% der Bevölkerung an Anorexie und Binge Eating und 8% an Bulimie (in den US sollen es bereits 30% BulimierInnen sein!).
Anorexia nervosa
Die Anorexia nervosa ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen.
Diagnostische Leitlinien sind:
Tatsächliches Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten (entweder durch Gewichtsverlust oder nie erreichtes Gewicht) oder body-mass-index (hier schnell ausrechnen!) von 17,5 oder weniger. Bei Patientinnen in der Vorpubertät kann die erwartete Gewichtzunahme während der Wachstumsperiode ausbleiben.
Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch:
-Vermeidung von hochkalorischen Speisen; sowie eine oder mehrere der folgenden Verhaltensweisen:
-selbst induziertes Erbrechen;
-selbst induziertes Abführen;
-übertriebene körperliche Aktivitäten;
-Gebrauch von Appetitzüglern oder Diuretika.
Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung: die Angst, zu dick zu werden, besteht als eine tiefverwurzelte überwertige Idee; die Betroffenen legen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst fest.
Eine hormonelle Störung: Sie manifestiert sich bei Frauen als Ausbleiben der Periodenblutung und bei Männern als Libido- und Potenzverlust. (Ausnahme bei Frauen, die die Antibabypille einnehmen.).
Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt (Wachstumsstopp; fehlende Brustentwicklung und primäres Ausbleiben der Menses beim Mädchen; bei Knaben bleiben die Genitalien kindlich).
Bulimia nervosa
Die Bulimia nervosa (Bulimie) ist durch wiederholte (in vergangenen 3 Monaten im Durchschnitt zweimal pro Woche oder mehr) Anfälle von Heisshunger (Essattacken) und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert. Dies veranlasst die Patientin, mit extremen Massnahmen den dickmachenden Effekt der zugeführten Nahrung zu mildern (Erbrechen oder/ und Abführmittel; Fasten von 24 Stunden oder länger oder exzessive sportliche Leistungen). Die Alters- und Geschlechtsverteilung ähnelt der Anorexia nervosa, das Alter bei Beginn liegt geringfügig höher. Die Störung kann nach einer Anorexia nervosa auftreten und umgekehrt. Wiederholtes Erbrechen kann zu Elektrolytstörungen und körperlichen Komplikationen führen (Tetanie, epileptische Anfälle, kardiale Arrhythmien, Muskelschwäche), sowie zu weiterem starken Gewichtsverlust.
Diagnostische Leitlinien sind:
Eine andauernde Beschäftigung mit Essen, eine unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln; die Patientin erliegt Essattacken, bei denen grosse Mengen Nahrung in sehr kurzer Zeit konsumiert werden.
Die Patientin versucht, dem dickmachenden Effekt der Nahrung durch verschiedene Verhaltensweisen entgegenzusteuern: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweilige Hungerperioden, Gebrauch von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika.
Eine der wesentlichen psychopathologischen Auffälligkeiten besteht in der krankhaften Furcht davor, dick zu werden. Häufig lässt sich in der Vorgeschichte mit einem Intervall von einigen Monaten bis zu mehreren Jahren eine Episode einer Anorexia nervosa nachweisen.
Binge Eating
eine gute Zusammenfassung der Binge-Eating-Störung findet sich unter www.novafeel.de/ernaehrung/binge-eating-stoerung.htm.
Alarmsymptome
Alarmsymptome, die (für Aussenstehende) einen Hinweis auf Essstörungen geben können:
verhüllende, zu warme Kleidung
Kaugummi kauen (Betäuben des Hungergefühls, orale Fixierung)
blaue Hände, Füsse, Lippen (Kälteempfindlichkeit)
starke Gewichtsschwankungen
Hamsterbacken, obwohl sonst sehr dünn (Speicheldrüsenschwellung)
scheint häufig mit Gedanken woanders zu sein
kann schlecht stillsitzen (Bewegungsdrang zwecks Kalorienverbrennung)
keine oder nur unregelmässige Periodenblutung
Zahnprobleme
selten Bissspuren auf Händen (durch Provokation des Erbrechens, dabei häufig die ganze Hand nötig) - man muss dazu sagen, dass Frauen, die unter Bulimie leiden, meist auf Knopfdruck erbrechen können, und zwar ohne sich irgendetwas in den Rachen zu stecken. Der Körper lernt dies nach ein paar Monaten.
Ursachen
Was könnten Ursachen dieser Essstörungen sein?
Viele Therapeuten machen sexuellen Missbrauch in der Kindheit, mangelnde Zuneigung der Eltern und schlecht funktionierende Familien für die Entstehung verantwortlich. Doch keine dieser vermeintlichen Ursachen wurde je wissenschaftlich nachgewiesen (Metaanalyse von Eric Stice in Psychological Bulletin, 5/2002).
Stice entdeckte jedoch eine Reihe von Faktoren, die tatsächlich zu Essstörungen führen:
Ein grosses Spannungsfeld entsteht für Jugendliche unserer Zeit durch den ausgeprägten \"Schlank, fit und leicht\"-Trend. Anstatt unsere inneren Körpersignale wahrzunehmen und Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Aktivität und Ruhe zu beachten, lassen wir uns von äusseren Reizen steuern und handeln so, wie es der Trend vorschreibt. Als Folge davon verlieren wir immer mehr die Fähigkeit, unser eigenes Körperwohlgefühl noch wahrzunehmen, wir missachten unsere inneren Wahrnehmungen.
Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper erwies sich als einer der Hauptrisikofaktoren, eine Essstörung zu entwickeln und zu behalten. V.a. auch wenn ihr Selbstvertrauen niedrig ist.
Negative Gefühle. Es kommt zu Fressattacken, weil die Betroffenen den unangenehmen Gefühlen entkommen wollen.
Perfektionismus. Dieser Charakterzug gilt als Risiko, weil perfektionistische Menschen auch Schlankheitsideale rigoros verfolgen.
Übergewicht. Wie die Daten zeigen, verursachen viele Pfunde an sich noch keine Essstörungen. Sie können jedoch zu Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führen und überdies den Eindruck fördern, dass die Umwelt eine schlankere Figur erwartet.
Prophylaxe
Prophylaktisch ist hier, wie überhaupt bei sehr vielem, vor allem das gelebte Vorbild der Eltern wichtig. Gerade in unserer \"Überflusskultur\" sind wir mehr denn je darauf angewiesen, auf innere Signale zu hören. Störungen im Essverhalten weisen immer auch auf Beziehungsstörungen im sozialen Umfeld hin. Anstatt den gemeinsamen Ess-Tisch als \"Kampfplatz\" für ungelöste Konflikte zu missbrauchen, sollte in der Familie eine Gesprächskultur entwickelt werden, wo Gefühle und auch angemessene Kritik geäussert und Beziehungsfragen offen geklärt werden können. Da gerade im Jugendalter Auflehnung und Kampf die Normalsituationen sind, sollten sich die Eltern den Auseinandersetzungen mit ihren Jugendlichen stellen und ihnen so die Möglichkeiten geben, sich darin zu behaupten. Ess-Störungen stellen so in jedem Fall auch eine Provokation dar und fordern die Eltern dazu auf, sich mit dem eigenen Verhalten gegenüber gesellschaftlichen Wertmassstäben auseinander zusetzen, sich über die Qualität ihrer Beziehungen klar zu werden oder auch darüber, wie sie selber auf seelische und körperliche Signale achten.
Eine Betroffenen-Aussage:
\"Ich, 16, litt auch an Magersucht. Doch das Essen ist heute keine Qual mehr. Das wichtigste ist Dein Wille. Du musst überzeugt sein, dass Du es schaffen kannst. Und dass Du es nur für Dich tust. Öffne Dich Deinem Körper. Stelle Dich vor den Spiegel und betrachte Dich. Frage Dich, ob Du schön bist. Gefallen Dir Deine hervorstehenden Knochen, die kleinen Brüste? Baue die Angst vor Esswaren ab: Riech an einem Stück Brot. Beiss es ab und zerkaue es ganz langsam. Schliesse die Augen - probiere es zu geniessen. Rede über Deine Krankheit, lies Bücher. Du bist nicht die einzige, die solche Probleme hat.\"
Therapie
Es gibt keine einheitlichen therapeutischen Vorgehen. Zu den erfolgversprechendsten integrierenden Ansätzen zählt das am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie entwickelte Programm, das sich stark an gruppentherapeutischen Verfahren orientiert. Langfristig werden dort auch Eltern, Partner oder Geschwister in die Therapie einbezogen.
Es gibt vier aufeinanderfolgende Behandlungsphasen:
Die Motivationsphase dauert ein bis zwei Monate. Die zukünftigen Patienten können sich im Kontakt mit Therapeuten und \"aktiven\" Klienten umfassend informieren und mit den Rahmenbedingungen vertraut machen.
Die tagesklinischen Phase umfasst tagsüber neben jeweiligen medizinischen Untersuchungen und Entspannungsübungen vor allem gruppentherapeutische Aktivitäten, ein verhaltenstherapeutisch orientiertes Essprogramm sowie Übungen zur Körperwahrnehmung, Tanz und andere spielerische Aktivitäten.
Nach drei Monaten schliesst die ambulante Behandlungsphase an. Dort stehen gruppentherapeutische Verfahren im Vordergrund, die von regelmässigen Geschwistergruppen oder einer Familiengruppentherapie begleitet werden. Dies dauert zwei Jahre.
Die abschliessende Selbsthilfephase soll dann etwa ein halbes Jahr lang - durch weitgehende Übernahme von Eigenverantwortung jenseits der schützenden Institution des Therapie-Zentrums- den Weg in ein Leben ohne Krankheit vorbereiten helfen.
Auch bei nur ambulanter Therapie sind schrittweise Verhaltensmodifikationen wichtig (kleine Schritte!).
Medikamente:
Sowohl bei der Anorexie als auch bei der Bulimie treten unkontrollierbare Heisshungerepisoden immer dann auf wenn die Liquorspiegel des Serotonin-Metaboliten 5-HIAA (5-Hydroxy-Indol-Azetat) besonders niedrig sind.
Ob diese erniedrigten Werte Ursache oder Folge des gestörten Essverhaltens sind, sei mal dahingestellt. Während bei Gesunden im Laufe einer Mahlzeit immer mehr Serotonin ausgeschüttet wird, was allmählich ein Sättigungsgefühl erzeugt, reagiert das Gehirn von AnorektikerInnen und BulimierInnen nicht auf den Stimulus.
Antidepressiva, die spezifisch am serotonergen System ansetzen (sog. SSRI), können die Fressattacken beseitigen oder zumindest lindern. Sie werden (neben Food-Craving und Binging) auch eingesetzt bei zusätzlicher Depression, Zwängen, Ängsten, Selbstverletzungen und stark verzerrter Körperwahrnehmung.
Indikationen zur notfallmässigen Hospitalisation sind:
rasche Allgemeinzustand-Verschlechterung
BMI kleiner als 13 kg/m2
Depression, starke Zwänge, Suizidalität
Mehrfachabhängigkeit
soziale Isolation
\"Trennung\" von sozialem System erforderlich
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