In der heutigen Zeit, in der durch verkehrsreiche Straßen, große Städte und beengten Lebensraum vorherrschen, haben Kinder immer größere Schwierigkeiten, sich in ihrer Bewegung frei zu entfalten. Sie haben nur noch selten die Gelegenheit auf Bäume zu klettern, über Baumstämme zu balancieren oder über Gräben zu springen. Daraus resultieren zunehmend Haltungsschäden, aber auch Verhaltensauffälligkeit oder Konzentrationsschwächen.[41]
In einigen Kindergärten und auch an einigen wenigen Sonderschulen, wie die Bischof-Ketteler-Schule in Bocholt, wurde deshalb ein SpielRaum eingerichtet. Dabei handelt es sich um einen großen Raum, der durch ruhige, einheitliche Farben besticht, damit diese nicht ablenken. Der Boden ist vorzugsweise aus Holz und an den Wänden hängen keine Bilder.
Im Raum befinden sich vorbereitete Spiel- und Klettergeräte aus Holz. Das Material Holz spielt eine entscheidende Rolle, da es natürlich ist und den Kindern einen Kontakt zur Natur ermöglicht. Die Spielgeräte sind deshalb auch nicht lackiert, sondern nur abgeschmirgelt. "Auf Kinder, die mit kleinteiliger, synthetischer Spielzeug-Fertigware meist in den Farben rot, grün, blau, gelb [.] überhäuft werden, wirkt es beruhigend, wenn sie mit Gegenständen in Kontakt kommen, deren Farben vom Material herrühren [.]"[42]
Es handelt sich dabei um Spielzeug, das nicht zum Konsum verführt, das stabil und sicher ist, das durchschaubar und variabel ist, das die Bewegungsfreude der Kinder aufgreift, das Kinder zueinander in Beziehung bringt, das Kinder öffnet, Verantwortung für den Umgang mit ihrem Spielzeug zu entwickeln.[43] Zu den Bewegungsmaterialien gehören: Stehleitern, Hühnerleitern, Sprossenbäume, Rutsch- und Schaukelbretter, Tritthölzer, Kriechtunnel, Kippelhölzer, Klettertürme, Balancierstangen, Holzhocker und solcherlei Dinge mehr. Angeordnet sind sie meist wie eine Art Parcours, was aber nicht zwingend nötig ist.
"Ich lasse die Kinder also grundsätzlich selbständig forschen und entdecken. Ich lasse sie frei experimentieren, aber nicht wahllos tun, was ihnen gerade einfällt"[44], sagte Elfriede Hengstenberg in ihrem Buch "Entfaltungen". Hier im SpielRaum ist es etwas anders, die Kinder können tun, was ihnen gerade einfällt. Es sind nur ein paar kleine Regeln zu beachten, die für eine ungestörte Entfaltung während des Spielens sorgen:
"Laufe nur barfuss! Lass dir Zeit! Lass auch den anderen Kindern Zeit! Tu nur das, was du dir alleine zutraust!"[45]
Das Barfusslaufen hat die Wirkung, dass die Kinder ihre Füße als Sinnesorgane, als Greifinstrumente und als Verbindung zur Erde erkennen; Aufgaben, die die Füße sonst nicht oder nur unbewusst übernehmen. In der Bischof-Ketteler-Schule bewegten sich die Kinder, wenn sie wollten, nur in Unterwäsche durch den Raum, um das Gefühl des Holzes am ganzen Körper zuzulassen. Spielen im SpielRaum ist nicht das typische Spielen, an das man als Erwachsener sofort denkt. Die Kinder halten sich im Raum auf und haben absolut freie Hand. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Die Erwachsenen, die sich auch im Raum aufhalten, beobachten nur und greifen nicht in das Spiel ein. Damit ist gewährleistet, dass kein Leistungsdruck besteht und das Kind frei entscheiden kann, was es tut und wie viel es sich zutraut. Sorgen um ein Verletzungsrisiko braucht man eigentlich nicht zu haben, denn das Kind weiß meistens sehr gut, was es kann und was nicht. Eingreifen durch einen Erwachsenen hindert eher die selbständige Entfaltung des Kindes. Wenn einem nicht wohl dabei ist, dass das Kind auf der obersten Stufe einer wackeligen Holzleiter steht und plötzlich unsicher wird, kann man sich in die Nähe des Kletternden begeben und ihm signalisieren, dass ihm nichts passieren kann, solange man da ist. Auch sollte der Erwachsene keines der Kinder animieren etwas Bestimmtes zu tun. Am besten, man schweigt die meiste Zeit.
Eine wichtige Regel ist es, dass Kinder anderen Kindern Zeit lassen, die sie brauchen oder beanspruchen. Hat sich ein Kind für ein Spielzeug entschieden, darf es damit solange spielen, wie es möchte. Möchte ein anderes Kind auch dieses Spielzeug nutzen, muss es warten, bis dieses wieder frei ist.
Ein Kind braucht Zeit, um mit etwas vertraut zu werden. Es muss sich selbst durch Experimentieren überwinden. Und wenn es sich nicht überwindet, ist das auch nicht schlimm. Allerdings beginnt jedes Kind irgendwann, etwas auszuprobieren. Es braucht nur manchmal Zeit, sich auf etwas einzulassen, das es an seine Grenzen stoßen lassen kann.
"Im Spiel mit den Bewegungsmaterialien können sich die Kinder innerlich und äußerlich aufrichten. Es wird der Zusammenhang zwischen einer möglichst ungestörten sensomotorischen Bewegungsentwicklung und der Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit sichtbar."[46]
Diese Erfahrungen mit dem eigenen Körper, den eigenen Grenzen, den eigenen Fähigkeiten und den eigenen Erfolgserlebnissen sind für das Kind wichtig, da sie seine spätere körperliche aber auch geistige Entwicklung fördern. In Zeiten der Technisierung, in der der beste Spielkamerad eines Kindes der Computer ist, in der das Spielzeug, das es tonnenweise zu kaufen gibt, von selbst spielt und in der der Fernseher ununterbrochen läuft, ist eine gesunde, bewegungsintensive Entwicklung der Kinder wichtiger denn je. Kinder müssen sich bewegen, um nicht zu körperlich und seelisch zu verkümmern.
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