WAS SICH IN DEN 10 JAHREN SEIT DER TSCHERNOBYL-KATASTROPHE GETAN HAT
Tschernobyl hat der Atomwirtschaft zwar geschadet, doch die großen Reaktoren laufen zehn Jahre später noch fast alle. Der folgende Artikel zeichnet die Strategien der AKW-Betreiber in dieser Zeit nach, zeigt, wo ihre Politik gescheitert ist, und welche Chancen sich für die Anti-AKW-Bewegung daraus in naher Zukunft entwickeln können. (Red.)
Als vor zehn Jahren die radioaktive Wolke aus Tschernobyl über Europa zog, als bisher exotische Maßeinheiten wie Becquerel oder rem, Curie oder Sievert plötzlich zur Allgemeinbildung zählten, da waren viele Menschen der Überzeugung, daß damit das Ende der Atomenergienutzung besiegelt sei. Der Schrecken, daß wirklich eintreten kann, wovor kritische WissenschaftlerInnen und die Anti- AKW-Bewegung immer wieder gewarnt hatten, saß tief. Unzählige gingen damals auf die Strasse und forderten die sofortige Stillegung aller Atomanlagen. Bald waren Energiewendeszenarios in Umlauf, die zeigten, daß diese Forderung wirklich umsetzbar ist. Die Atomindustrie und ihre Lobby in der Regierung wehrte sich mit allen Mitteln. Zuerst wurde versucht, das Problem auf die unsicheren Ost-Reaktoren zu beschränken. Die deutschen AKWs seien die sichersten der Welt. Dann wurde in Bonn ein neues Ministerium (Umwelt und Reaktorsicherheit) geschaffen, um eigenes Handeln vorzutäuschen. Aufgrund der Verunsicherung in der Bevölkerung bezüglich der radioaktiven Belastung von Lebensmitteln gelang es relativ schnell, den Schwerpunkt der Debatte weg vom Betrieb der Atommeiler und hin zu der Diskussion um Grenzwerte zu lenken. So war einige Monate nach Tschernobyl die Frage, was mit relativ gering strahlender Molke zu geschehen habe, von größerem öffentlichen Interesse, als die Gefahr eines Super-GAU in deutschen AKWs. Gleichzeitig wurden Demonstrationen wie z.B. in Wackersdorf von massiven Polizeieinsätzen behindert und zahlreiche AktivistInnen mit Strafprozessen überzogen.
Die AtomikerInnen verfolgten in den ersten Monaten und Jahren nach der Reaktorkatastrophe folgende Ziele: Die bereits in Betrieb befindlichen Kraftwerke sollten um die Stillegung herumkommen und die kurz vor der Inbetriebnahme stehenden Reaktoren (z.B. in Neckarwestheim und Brokdorf) sollten ans Netz gehen, damit sich die horrenden Baukosten amortisieren können. Diese Ziele wurden erreicht. Selbst der Beinahe-GAU im AKW Biblis und der Bestechungs-Skandal um die Hanauer Atomtransport-Firma Transnuklear 1987 hatten darauf keinen Einfluß.
Doch die Erfolge der Atomindustrie in der Defensive mußten teuer erkauft werden. An die Realisierung neuer AKW-Projekte war nicht im Traum zu denken. Die Reaktorbauer von Siemens-KWU entließen nach und nach einen Großteil ihrer Belegschaft. Zahlreiche sogenannte Zukunftsprojekte mußten aufgegeben werden: Der Hochtemperaturreaktor in Hamm-Uentrop, der Schnelle Brüter in Kalkar und vor allem die heftig umkämpfte Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf wurden teilweise über Nacht zu riesigen Investitionsruinen.
Im Laufe der Jahre verschwanden alte Argumente und neue kamen auf den Tisch. Niemand redet inzwischen mehr davon, daß ohne Atomstrom die Lichter ausgehen. Jetzt ist es das Klima, welches durch die AKWs gerettet werden soll. Doch die Werbekampagnen der AKW-Betreiber haben wenig Erfolg. Die atomkritische Stimmung in der Bevölkerung bleibt konstant erhalten, auch wenn zwischenzeitlich nur noch wenige in Anti-Atom-Initiativen aktiv waren.
Nachdem die Auseinandersetzung in den Jahren nach Tschernobyl mit einem Patt endete (die Atomindustrie warf zugunsten der bestehenden AKWs umstrittenen Ballast ab), begann die mühsame Auseinandersetzung um die laufenden Anlagen. Die Bilanz nach zehn Jahren:
Es ist bisher nicht gelungen, konkrete Planungen für AKW- Neubauten durchzusetzen. Die nach der Annektierung der DDR kurzzeitig erwogene Fertigstellung der Reaktoren in Stendal wurde bereits nach der ersten größeren Demo an der Baustelle aufgegeben. Auch die Greifswalder AKWs mußten stillgelegt werden. Damit gibt es im deutschen Osten keinen kommerziell genutzten Reaktor mehr.
Von den 21 westdeutschen Leistungsreaktoren sind zwei auf Dauer vom Netz genommen. Das AKW Mülheim-Kärlich ist seit Jahren gerichtlich blockiert. Der Reaktor in Würgassen wurde aufgrund technischer Probleme von den Betreibern 1995 aufgegeben. Bei anderen Kraftwerken mußten immer wieder längere Stillstandszeiten in Kauf genommen werden. Mit den anderen Anlagen in Brunsbüttel, Krümmel, Obrigheim und Biblis konnten die Stromkonzerne so teilweise über Jahre keine müde Mark erwirtschaften. Nach langer Auseinandersetzung gab Siemens die Brennelemente-Fertigung in Hanau auf.
Im Streit um den Atommüll konnten die Projekte in Ahaus (Zwischenlager), Gorleben (Zwischenlager und Endlager, Konditionierungsanlage), Salzgitter (Endlager) und Greifswald (Zwischenlager) teilweise um mehr als ein Jahrzehnt verzögert werden. Das Ausweichen der AKW-Betreiber ins Ausland ist kostenintensiv und umstritten. Die Atommülltransporte zur Wiederaufarbeitung nach Sellafield und La Hagü sind seit Jahren bevorzugtes Aktionsziel der Anti-AKW-Bewegung.
Die 1992 begonnenen sogenannten Energiekonsensgespräche zwischen Bundesregierung und Atomwirtschaft auf der einen und der sozialdemokratischen Partei auf der anderen Seite waren der Versuch, die SPD von ihrer nach Tschernobyl formulierten "sowohl als auch"-Atompolitik wieder auf den rechten Weg zu bringen. So ging es am Anfang darum, die Möglichkeit zukünftiger AKW-Neubauten auszuloten. Die letzten verbliebenen Siemens-ReaktorbauingenieurInnen basteln gemeinsam mit französischen KollegInnen an einem neuen Kraftwerkstyp. Zu der von der Stromindustrie geforderten Investitionssicherheit für Neubauten konnte sich die SPD aufgrund der gesellschaftlichen Stimmung nicht durchringen, obwohl Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder massiv dafür geworben hatte.
Damit blieb den Energiekonzernen auch in den Konsens-Gesprächen nur die Bestandssicherung. Schröder war ihr stärkster Propagandist, indem er sogenannte "Restlaufzeiten" von 30 Jahren vorschlug. Nachdem die ersten beiden Konsens-Runden 1993 und 1995 aufgrund des massiven Drucks aus der Anti-AKW-Bewegung gescheitert sind, geht es inzwischen nur noch um den Atommüll. Die Betreiber wünschen sich eine Klärung in der Entsorgungsfrage, damit sie ungestört weiter strahlende Abfälle produzieren können. Doch damit bewegen sie sich auf dem Politikfeld, in dem die Anti-Atom-AktivistInnen ihre größte Aktionsfähigkeit erhalten haben.
Ein zweites Tschernobyl, darin sind sich die Bundesregierung und AKW-Betreiber einig, würde die Branche wohl kaum überleben. Wie lange sie sich noch über Wasser halten kann, bevor uns (oder ihr) das berühmt-berüchtigte Restrisiko den Rest gibt, hängt entscheidend davon ab, ob sich der Trend der letzten zwei Jahre fortsetzt, in denen die Anti-AKW-Bewegung wieder erfreulichen Zulauf bekommen hat. Vielen wird klar, daß es geradezu zynisch wäre, auf den nächsten GAU oder das Durchrosten der Alt-AKWs zu warten.
Die letzten zehn Jahre haben gezeigt, daß sich die Atomindustrie nicht von selbst erledigt. Um einmal in militärischen Kategorien zu sprechen: Nur dort, wo sich die Menschen entschieden zur Wehr setzen, können neue Atom-Offensiven verhindert werden und die Rückzugsgefechte der Betreiber sind dann aussichtslos, wenn diejenigen, die sich bei Umfragen immer gegen die AKWs aussprechen, anfangen, ihre Überzeugung in die Tat umzusetzen.
Die Demonstrationen zum 10. Tschernobyl-Jahrestag und der Widerstand gegen die Anfang Mai geplanten nächsten Castor-Transporte nach Gorleben werden zeigen, ob die atomkritische Masse in der Bundesrepublik dazu in der Lage ist, das Patt im Streit um die AKWs zu beenden. 1997 kann der Anfang vom Ende der Atomindustrie sein. Es liegt an jedem und jeder Einzelnen.
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