5a. Die besondere Situation der Mauerstadt & die Wende
Langeweile herrscht unter Berlins Szenegängern in den späten Achtzigern. Die Nachtschwärmer treffen sich immer in den gleichen Clubs und tanzen zu Musik, die in anderen Metropolen gerade Trend ist: \"Berlin wird kulturell von außen beatmet, auch im Untergrund.\"
Vergessen sind die ersten elektronischen Gehversuche der Neuen Deutschen Welle (NDW). Neben dem Gemisch aus Punk, Hip Hop und New Wave etablieren sich auch Bands, die aus den Klangtrümmern der Industriegesellschaft ihren eigenen Stil entwickeln. Führende Innovatoren dieser neuen Musik waren unter anderem \'Thobbing Gristle\' und \'Cabaret Voltaire\', vor allem aber die \'Einstürzenden Neubauten\', die die australische Avantgarde mit \'Nick Cave\' zum Umzug nach Berlin veranlassen. Ihre neuen Klänge werden später in hohem Maße in den Techno-Untergrund einfließen.
Gleichzeitig gestalten sich im Berliner Metropol die ersten Formen der Non-Stop-Musik mit \'DJ WestBam\'. Er mischt Soul- und Discoplatten so zusammen, daß man die Übergänge zwischen den einzelnen Liedern nicht mehr hört. Diese \"High-Energy-Musik\", der Vorläufer von House-Musik, \"war eine Sensation. Nur wenige wußten, wie das geht.\"
Es bildet sich eine harte Fangemeinde, darunter auch große Teile der Berliner Schwulenszene, die bis in die frühen Morgenstunden zu den sich endlos wiederholenden, stampfenden musikalischen Übergang mit Trillerpfeifen und Johlkonzerten tanzen. Diese ununterbrochene Musik ähnelt sehr dem heutigen Techno, wie die in den USA, insbesondere in Chicago, entstandene House-Musik.
House findet seine Einflüsse in Disco, Funk und europäischer Tanzmusik, aus einer Mischung von Kraftwerk- und schwarzer Gospelmusik. WestBam kauft zu dieser Zeit alles, wo das Wort \'House\' auch nur draufsteht, und versucht 1986 die erste Berliner House-Party zu veranstalten.
\"Berlin hatte zu dieser Zeit noch keinen Dance-Untergrund, von der High-Energy-Schwulenszene vielleicht abgesehen. Aber hier gab es schon immer, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt, Untergrund-Kultur. Das EX und POP, eine Berliner Szenebar, war Teil davon, eben mehr für Leute, die Einstürzenden Neubauten hörten oder Black Flag und dazwischen Schostakowitsch. Wir schleppten also zwei Technics 1210er, ein Mischpult und eine Roland 808 und meine ersten 30 House-Platten hinein. Daß Underground-Dancemusic plus Undergroundszene noch keine Underground-Danceszenen ergeben, kann man wohl als Ergebnis dieser ersten House-Parties Berlins, wohlmöglich Deutschlands, bezeichnen. Die Gäste (...) wippten etwas mit und fragten sich, was da wohl passiert in ihrer Kneipe.\"
Damals sorgt eine Variation von House, der Acid-House, auf Parties in London und Ibiza für Furore und schwappt prompt in den Berliner Untergrund. Entstanden ist der Acid-House-Sound eher zufällig in Chicago, wo zwei DJs mit einem \'Roland TB 303\'-Synthesizer die Baßfrequenzen verdrehen, verzerren und strecken und daraus ein Lied komponieren. Der neugeschaffene Klang wird zum Renner im Untergrund.
Berlin wird durch erste Acid-House-Parties in der Turbine Rosenheim Bestandteil und Multiplikator der Untergrund-Bewegung. Im UFO, der \"Geburtsstätte der Berliner House-Szene\" versammelten sich 1988/89 all jene, die in den 90er Jahren eine Karriere hinter den Kulissen der Techno-Szene starten werden. Die illegalen Parties im UFO werden von Monika Dietl, Moderatorin bei Radio 4U kurzfristig angekündigt. Das UFO ist nur unter Insidern bekannt, wird von der Polizei und den Behörden gesucht und ist deshalb gut versteckt.
In diesem Lagerkeller einer Kreuzberger Ladenwohnung untermalen Stroboskop-Blitze visuell die neuen, wegen der schlechten Musikeinlagen kaum zuzumutbaren Töne von Acid-House. Die etwa 50 bis 100 anwesenden Gäste tanzen 1988/89 stundenlang gasmaskiert durch den lichttrunkenen Nebel zu den zusammengemischten Endlosklängen.
\"Das Neue an der Musik war, daß es nicht mehr wichtig war, ob man die A- oder B-Seite der Platte spielte, wer der Interpret war und wer die Musik komponiert hat. Wichtig waren die neuen Klänge, mit denen es abging. Du mußt dir das so vorstellen: Du hörst dein Lieblingsstück, und darauf tanzt du dann. Irgendwann merkst du, daß du schon viele Stunden tanzt.\"
Ein weiteres Novum ist, daß das Publikum der Star ist und die Bühne ausfüllt, der DJ rückt in den Vordergrund. Eine Party, zu der die Leute in einer so großen Gruppe völlig frei und losgelöst tanzen, verursacht eine völlig neue, im Kollektiv erlebte, enorm positive Stimmung. Die \"Gib mir das Unterhaltungspensum für meinen Zwanziger, den ich bezahlt habe\"-Attitüde, die den Konzertbesucher wieder frustriert in seine Welt hinausschickt, wird von der Partykultur geändert.
Der idealistische Einsatz der ersten DJs auf diesem neuen Musiksektor (u.a. auch \'Dr. Motte\' und \'WestBam\') macht für viele den Berliner Party Untergrund attraktiv und ist insofern zu schätzen, als daß diese Acid-House-Parties nie die breite Massenwirkung erzielten, wie wenig später die ersten Techno-Parties.
5b. Die Wende
Die ersten Techno-Radiosendungen auf Radio 4U im Jahre 1989, stoßen auch im Berliner Osten auf interessierte Zuhörer. Die infizierten Ostbürger schneiden die Sendungen mit und veranstalten damit ihrerseits Parties.
\"Die Wiedervereinigung der Techno-Szenen dauerte genau zwei Tage. An einem Donnerstag gingen die Grenzen auf, und an einem Samstag machten wir gemeinsam Party im Westberliner Kultclub UFO.\"
Das System der illegalen Raves funktioniert sogar auch im Osten. Erster Anbieter ist Wolle Neugebauer, der im Haus der jungen Talente in Mitte die erste große Technozid-Party veranstaltet, die mit rund 1.000 Besuchern ein voller Erfolg wird. Diese Raves sind große ekstatische Technoveranstaltungen, wo möglichst viele Leute in einem Zustand des Tanzrausches zu vereinen.
\"Wenn die Leute miteinander abgehen und nicht auf die Bühne konzentriert sind, sondern miteinander tanzen und auf geheimnisvolle Art miteinander kommunizieren, das ist schon was ganz anderes.\"
Neue Namen für neue Formen bekannter Phänomene deuten hin auf eine neue kulturelle Indentität und auf ein neues Selbstwertgefühl, das jeder Anhänger dieser ersten Techno-Parties verspürt. Raves finden mittlerweile europaweit statt, der Austausch von Gast-DJs expandiert, nirgends wird so ausgelassen gefeiert wie im wiedervereinigten Berlin.
\"Die Technozid-Parties hatten ein sehr radikales Konzept und einen sehr radikalen Raumansatz. Wichtig war vor allem die wahnsinnige Musikanlage, denn jede Tanzfläche funktionierte nach einem konzentrativen Prinzip. Du mußt mindestens vier Lautsprechertürme aufstellen und somit ein Feld erzeugen, daß sich in der Mitte konzentriert. Hier bündeln sich die Energien zwischen dem DJ und den Tanzenden... Wow. Und dann gab es dieses gnadenlose Stroboskop-Licht in der Mitte über der Tanzfläche. Da es das einzige Licht war, hat man beim Tanzen völlig die Orientierung verloren. Das Ausreizen dieser minimalistischen Stilmittel ..., das war der Kick der Technozid-Parties.\"
Die Machart dieser Parties beinhalten im wesentlichen alle Elemente, die auch die heutigen Techno-Parties charakterisieren. Die Philosophie bleibt im Laufe der Jahre dieselbe. Aufgrund der einstigen Illegalität lautet die Devise: Weniger ist mehr. Der ständige hektische Auf- und Abbau von Musikanlagen der Vergangenheit reduziert die Wahl der Requisiten aufs Nötigste. Trockeneismaschine, Stroboskop und laute Musikanlage bilden eine effektvolle und handliche Einheit.
Die Frage nach einem passenden Ort - einer Location - muß noch geklärt werden. Ideal scheint zu diesem Zweck der Osten. Er bietet nach dem Mauerfall einzigartige Möglichkeiten zu Parties an neu zugänglichen Orten wie Bunkern, Grenzanlagen oder in verlassenen Gebäuden der Armee und der DDR-Organisationen.
Die darin stattfindenden Parties geben deren historischer Atmosphäre eine Prägung. Die verfallenden Gebäude mit rohen Mauern und abgerissenen Rohren stellen die Dekoration dar und verweisen auf einen baufällig zugrunde gegangenen Staat. DDR-Polizei und Verwaltungskräfte scheinen 1990/91 völlig gelähmt, handlungsunfähig und ohne autoritäres Selbstverständnis. Alles scheint erlaubt und möglich und daher fühlt sich der Untergrund mit dem Osten verbunden. Motivation genug für genügend Westler sich den Traum von Anarchie und extremer Freiheit hier zu verwirklichen.
Sechs Monate dauert es 1990 bis Studenten und Teile der Kreuzberger Szene 140 leerstehende Mietshäuser in den Ostteilen der Stadt besetzen. Die dadurch neuentstandene Stadtteilkultur wird gekennzeichnet von Bars, Clubs, Partyorten oder Kunstgalerien, alle ohne Konzession, die wie Pilze aus der Erde sprießen, um nach der Schließung an anderen Orten erneut wieder aufzutauchen.
Durch den Fall der Mauer liegen die Zutaten für die kreativen Kräfte praktisch auf der Straße. Altes Ostinventar wird auf dem Sperrmüll zusammengesammelt und neu verarbeitet. Der Osten bietet jedem die Möglichkeit sich in billigem Lebens- und Arbeitsraum frei zu entfalten. Aus alt mach neu, und deshalb werden die besetzten Häuser im Prenzlauer Berg neu entdeckt und gelten heutzutage als Geheimtip für Touristen aus aller Welt.
Technojünger aus Ost und West nutzen die neuen Möglichkeiten in gleichem Maße. Die harten Bässe des Techno erschüttern die maroden Wände ehemaliger SED- und Stasi-Immobilien. Für die Westler eine neue unbekannte Party-Location, für die Ostler die Möglichkeit ihre Vergangenheit mit der Untergrundkultur Techno zu überwinden, denn Musik ist für sie erstmals kein Second-Hand-Import von \'Drüben\', sondern ein Trend, den sie gleichzeitig erleben. Die Raves im Osten wecken den Abenteuergeist der Wochenend-Emigranten aus dem Westen.
Der Reiz ist das Unbekannte, das Illegale und das Neue im Gegensatz zum drögen Westwochenende und steht in der Tradition der britischen Clubszene zu Acid-House-Zeiten. Um den behördlichen Zwangsjacken zu entkommen, werden die Parties mit Mund- und Flyerpropaganda beworben. Nur die Insider erfahren von den nächsten Veranstaltungen:
\"Das Weiterreichen von einem Flyer war schon so gut wie der halbe Eintritt, anders hast du ja von der Party häufig nicht erfahren.\"
So geschieht es auch im Berliner Osten, doch in einer bisher unbekannten Dimension. Alle Energie wird für die Organisation und in die Kreativität investiert. Viele der Initiatoren brechen mit ihrer Karriere ab, um sich ganz dem Techno-Leben zu widmen. Die ehemalige Schuhverkäuferin Marusha ergattert sich einen Moderatorenjob beim neugegründeten halbkritischen Sprachrohr der Ostjugend, dem Radiosender DT 64. Mit Techno- und Houseplatten wird sie zur Identifikationsfigur der Jugendlichen und zum Aushängeschild eines neuen Radios für eine neue Jugendbewegung und erhält nach kurzer Zeit die volle Kultreferenz aus den Untergrundkreisen.
Techno bietet der Jugend im Osten eine neue kulturelle Identität in der Wendezeit. Marushas Sendung \'Dancehall\' wird zur Informationsbörse der sich langsam auffächernden Untergrundszene. Es werden die ersten technospezifischen Plattenfirmen gegründet, die Techno-Clubs werden seßhaft. Man produziert nun seine eigene Musik mit eigener Mode und Partykultur.
5c. The Spirit of 1991
Die Medien werden aufmerksam, beantworten erste besorgte Leserbriefe und setzen sich erstmals mit den neuen Phänomen auseinander. Man prophezeit dem simplen \'Bum Bum\' ein frühes Ende. Doch die Technoszene feiert 1991 exzessiver und ausgiebiger den je - es wird als das Jahr des \'Spirit of \'91\' gefeiert und heute auch vermißt.
\"Heute ist alles Routine und langweilig und kommerziell. Damals war alles neu und aufregend, das Jahr 1991 war das der ausgefallensten Parties\", meint Frontpage-Herausgeber Jürgen Laarmann: \"Jeder, der dabei gewesen ist, wird das nicht vergessen. Die legendären Bunker-Parties waren sensationell.\"
Eine Party zu feiern war 1991 im Ostteil Berlins ganz einfach: Man wirft ein Notstromaggregat über einem ehemaligen NVA-Bunker an, und ab geht die Party:
\"Die haben für 20 Stunden einfach die Türen zugeschlossen, so daß keiner mehr aus dem Bunker \'rauskonnte. Ganz schön kraß war das. Aber da wurden die Slogans \'Love, Peace & Unity\' wirklich in absolut ekstatischen Momenten mit allen zusammen gelebt. Das war eine Art modernes Hippietum. Man war bemüht, von den mega-individuellen Achtzigern wegzukommen, hin zu einer superdemokratischen Lebensform. Da steckte Aufbruch und Lebensgefühl drin. Es wurde auf Konflikte verzichtet. Es gab keine Machtausspielung, höchstens hintenrum, und es gab auch keinen Sex, auch wenn die Frauen im Latex-Mini herumliefen. Alles war so friedlich - eine abgeschwächte Realität mit überschwenglicher Freude.\"
Die unaufhaltsame Verbreitung der Szene wird ebenfalls dem Geist des Jahres \'91 zuerkannt. Techno versprüht ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl, der Idealismus und die Euphorie infizierte Außenstehende und hatte missionarischen Charakter.
Man mag der Bewegung vorwerfen, durch die geheime Partykommunikation die Nicht-Involvierten absichtlich ausgegrenzt zu haben, aber trotzdem war für die junge Techno-Bewegung gleichzeitig eine freundliche Offenheit für neu Dazugestoßene charakteristisch. Jeder durfte bei der Dancerevolution mitmachen.
Das Motto war einfach und effektiv. Es gab einen inoffiziellen Kodex, der vorsah, daß alle ethischen Moralvorstellungen politisch korrekt zu sein hatten. Leider gab es darüber nie irgendwelche schriftlichen Vereinbarungen, anhand derer man dies nachvollziehen konnte, doch jeder, der neu in diese Bewegung dazustieß, akzeptierte den Moral- und Verhaltenskodex der Partykultur.
Die einst intimen Parties wurden gigantisch groß. Dies liegt nicht nur an dem gesteigerten Profitinteresse der Veranstalter, sondern vor allem an der unausgesprochenen Maxime der Techno-Kultur. Die andere Seite der Medaille wird im Partyjahr 1991 gern verdrängt, nämlich daß sich diese Massenakzeptanz auch in Identitätsverlusten der Partybewegung äußert.
Auf der anderen Seite ermöglichte dieser Massenzulauf, daß sich Techno als das Hauptmusikprogramm in verschiedenen Berliner Clubs etablierte. Die teilweise in früher genutzten Räumen/Häusern gegründeten Techno-Clubs wie z.B. das WMF, der Tresor und das E-Werk (alle in Berlin/Mitte) sind noch heute, selbst nach Umzügen oder Umbenennungen, die Anlaufstellen der Nightlife-Szene. Eine Entwicklung, die parallel in anderen Großstädten der Bundesrepublik wie Hamburg oder Frankfurt zu beobachten war - und es ist noch kein Ende in Sicht.
Die Impulse gingen jedoch von Berlin aus, die Szene Berlins bereitete für Techno in Deutschland den Boden und ließ dann neue Einflüsse auch von außen zu - begründet ist dies maßgeblich an dem neuen, aufstrebenden Charakter der ehemaligen Inselstadt nach der Wende.
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