Die gotische Plastik war zunächst architekturgebunden. Zentrale Bedeutung erlangten die teils überlebensgroßen Figurationen in der Laibung zu beiden Seiten des Portaleingangs der Kathedralen. Im Gegensatz zu den rein heilsgeschichtlich (eschatologisch) bezogenen Figuren der Romanik sind hier auch Gestalten des Alten und des Neuen Testaments, biblische Szenen sowie Heiligendarstellungen zu sehen.
Ihren Ausgang nahm die Entwicklung der gotischen Plastik von Darstellungen am Portal der Kathedrale von Chartres (1145-1155), die mit den sie tragenden Säulen korrespondieren. Sie prägten auch das Figurenensemble an der Kathedrale von Santiago de Compostela (vollendet 1188), eines der zentralen Werke des mittelalterlichen Spanien.
Ebenso wichtig für die Entwicklung der gotischen Plastik ist die Figurengruppe der Kathedrale von Senlis (um 1170), die, da mit dem Säulenschaft nicht länger verbunden, die Einzelgestalt sich verselbständigen ließ. Dennoch blieb auch hier die Verknüpfung von architektonischem Raum und plastischer Skulptur erhalten.
Der Bezug zum Raum wird auch ablesbar in der Gestaltung des figürlichen Faltenwurfes, der gegenüber dem Körper eine neue Gewichtung erfuhr. War die klassische Skulptur durch eine harmonische Gestaltung beider Momente geprägt, so führte bei der gotischen Plastik die Überbetonung des Gewands zu einem gleichsam schwingenden Gesamteindruck. Was sich vom Körper erkennen lässt, ist ununterscheidbar vom Faltenwurf der Kleidung, die ihn umhüllt. Selbst in der Darstellung von Nackten, wie in den Statuen von Adam und Eva im Bamberger Dom (um 1237), ist der Körper auf ein abstraktes Minimum reduziert.
Die Plastiken der Kathedralen von Notre-Dame-de-Paris (um 1210), Amiens (nach 1225) und Reims (um 1240) schließlich befreien sich weitgehend von ihrer architektonischen Gebundenheit und scheinen, noch ans Bauwerk geknüpft, aus ihm herauszutreten.
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