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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

"polnischer oktober" und die nachwirkungen



Die Phase des Stalinismus hatte auch über den Tod des Diktators am 5. März 1953 angehalten. Doch eher als in anderen Ostblockländern hatten sich in Polen frühzeitig Auflösungserscheinungen des stalinistischen Herrschaftsapparates bemerkbar gemacht. Nicht nur Wladyslaw Gomulka wurde 21. April 1955 wieder frei gelassen, sondern es hatte sich auch der Widerstand gegen diese Art von Kommunismus bereits öffentlich artikuliert vor allem aus den Kreisen der Intellektuellen und der Kirche. Und das im Juni 1956 die Arbeiter von Posen, unter dem Motto "Brot und Freiheit" für mehr Lohn und menschlicherer Arbeitsbedingungen auf die Straße gingen (offiziell sprach man von 48 Toten und über 300 Verletzten) zeigte, dass das Land einen neuen Parteiführer brauchte, dem das Volk vertrauen konnte und der die Probleme des Landes pragmatisch anging. Die Ära des Stalinismus in Polen war nun endgültig zuende.

Unter dem Druck der Öffentlichkeit wurde Wladyslaw Gomulka, dessen Name in diesen Jahren für Polen zum Symbol der Hoffnung und einer Alternative zum Terror geworden war, zunächst am 4. August 1956 offiziell rehabilitiert und danach in einer dramatischen Aktion, die fast zum Einmarsch der Roten Armee geführt hätte, am 19. Oktober 1956 zum Ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gewählt. Es gelang ihm, Polen von der totalen Kontrolle der Sowjetunion zu befreien und zu beweisen, dass die polnischen Kommunisten sich auch ohne ständige Anweisungen aus Moskau selbst um die Angelegenheiten ihres Landes kümmern können. In seiner Programmrede am 24.Oktober vor mehr als 300 000 Menschen auf dem Warschauer Paradeplatz knüpfte Gomulka wieder da an, wo er 1948 in seinem politischen Wirken aufhören musste. Die wichtigsten Programmpunkte waren unerschütterliche Verbundenheit mit der Sowjetunion, gleichzeitig jedoch völlige Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, souveräne Selbstregierung, völlige Gleichberechtigung, Freiheit für die Bauern, Freiheit für die Religion, Freiheit von Furcht und Terror und die Stärkung der sozialistischen Demokratie. All diese Punkte und die Welle der Begeisterung über den Neubeginn die durch das Land ging, wurden unter dem Begriff "polnischer Oktober" zum weltweiten Synonym für einen Sozialismus ohne Furcht und Terror, einem "demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Und in der Tat beginnt der "polnische Oktober" verheißungsvoll: Die Kollektivierung der Landwirtschaft wird so gut es geht rückgängig gemacht, die Heimatarmee wird rehabilitiert, die Partei einem Selbstreinigungsprozess unterzogen und das Verhältnis von Kirche zu Staat auf eine neue vertragliche Basis gestellt. Arbeiterräte werden als Instrumente der demokratischen Selbstverwaltung gebildet, die Zensur wird gelockert und ein Reformprogramm für die Wirtschaft entwickelt.

Der zentrale Gedanke dieser Wirtschaftsreform ist die Gewährleistung der Planwirtschaft durch die Schaffung wirtschaftlicher Anreize und nicht durch Kommandomethoden. Zu diesem Zweck erhielten die einzelnen Wirtschaftsbereiche weitgehende Selbstständigkeit in der Gestaltung ihrer Plan- und Lohnpolitik. Zugleich wurde der Schwerpunkt der industriellen Entwicklung auf jene Bereiche gelegt, die beim Wiederaufbau der Nachkriegszeit zu kurz gekommen waren, wie der Maschinenbau und die chemische Industrie. Doch trotz eindrucksvoller Zuwachsraten gelang es nicht, die selbst so hoch gesteckten Ziele zu erreichen. Zwar begann eine allmähliche Verlagerung des Wirtschaftsprofils Polens vom Agrarstaat in Richtung Industriestaat, doch blieb die Landwirtschaft mit ihren Millionen Kleinbauern der wichtigste Wirtschaftsfaktor Polens.

Die katholische Kirche war stärker als je zuvor. Im Rahmen ihrer Selbstverwaltung, unterhielt sie ihre Priesterseminare, soziale und intellektuelle Gesellschaften und eine eigene Universität in Lublin. Auf diese Weise wurde sie zur einzigen wirklich unabhängigen Kirche im Ostblock und statt wie parteitreue Soziologen vorhergesagt hatten, ihre Gläubigen zu verlieren, bewährte sie sich vielmehr als Zufluchtsort und treibende Kraft für die Opposition.

Im Gefolge des "Prager Frühlings" kam es im März 1968 zu Unruhen an der Warschauer Universität. Die Forderungen der Studenten, politische Reformen und mehr kulturelle Freiheiten, entsprachen in etwa denen ihrer tscheslowakischen Kollegen. Dabei handelte es sich wie bei dem Aufstand der Arbeiter in Posen 1956 keineswegs um einen Aufstand gegen den Sozialismus, sondern um einen Aufstand für einen besseren Sozialismus. Gomulka hat den Herbst 1968 zwar angeschlagen, aber noch ohne Sturz überstanden, jedoch nur, weil es (anders als 1956) nicht zu einer Solidarisierung von Studenten und Arbeitern kam. Obwohl die wirtschaftlichen und sozialen Fortschritte, die Polen während Gomulkas Amtszeit erzielte, durchaus beachtlich waren, konnte das Gomulka Regime der Bevölkerung nicht den subjektiven Eindruck eines Anstieges vermitteln. Als Gomulka am 11. Dezember 1970 drastische Preiserhöhungen für Lebensmittel verkünden lässt, kommt es an der gesamten polnischen Ostseeküste zu Unruhen. Das brutale Vorgehen der Polizei und der Sicherheitskräfte lassen aus der Erhebung ein Blutbad werden. Ob es 36 Tote gibt, wie offiziell zugegeben wird, oder mehr als 300, wie einige Arbeiter gegenüber ausländischen Journalisten behaupteten, die Stadt Danzig/Gdansk ist seither nicht mehr nur ein Symbol für das aus den Trümmern des Krieges wiederentstandene Polen, sondern auch für das Ende einer sozialistischen Parteiführung, die die elementaren Interessen der Bevölkerung aus den Augen verloren hatte und außerstande war, soziale Konflikte mit politischen Mitteln zu lösen. Wenn der Aufstand trotz einiger Sympathiestreiks nicht auf das ganze Land übergriff, dann nur deshalb, weil es der Partei relativ schnell gelang, die Führungsspitze umzubauen und anstelle des vom Idol zur Unperson gewordenen Gomulkas den Parteichef von Kattowitz, Edward Giereck, am 20. Dezember 1970 zu seinem Nachfolger gewählt wurde.

Giereck verkündete die Rücknahme der Preiserhöhungen und Straffreiheit für die Streikenden Arbeiter. Er forciert den Konsumgüterimport und kurbelt zugleich mit einem Investitionsprogramm die Wirtschaft des Landes an. So konnte er vorerst die Vertrauenskrise von Regierung und Bevölkerung überwinden. Als schwächster Punkt der polnischen Wirtschaft stellte sich wieder einmal die Landwirtschaft raus. Trotz einiger Reformen konnte auch das Giereck-Regime die strukturelle Schwäche der polnischen Landwirtschaft nicht überwinden.

 
 

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