Vor diesem Hintergrund faßten immer mehr DDR-Bewohner den Entschluß, ihrem Land so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Allein 120000 stellten im Sommer 1989 einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Im Juli und August versuchten darüber hinaus Hunderte, die mit ihrer Geduld am Ende waren, ihre Ausreise durch die Besetzung westlicher, diplomatischer Vertretungen in Budapest, Warschau, Ostberlin und Prag zu erzwingen. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik mußte sogar binnen zwei Wochen wegen Überfüllung geschlossen werden. Am Rande einer UNO-Vollversammlung erreichte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher in Verhandlungen mit seinem DDR-Amtskollegen Oskar Fischer, dem es um eine Entschärfung der instabilen Lage im Vorfeld der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung ging, die Ausreise aller Prager und Warschauer Flüchtlinge. Sie erreichten in Sonderzügen Anfang Oktober die Bundesrepublik, wobei die Route durch die DDR führte, wo nicht selten verzweifelte Menschen versuchten, auf die Waggons aufzuspringen.
In den kommenden Wochen kam der Flüchtlingsstrom in den Westen nicht zum Erliegen, und weder Krenz noch Honecker konnten durch verschiedene Maßnahmen der Lage Herr werden. Der Eiserne Vorhang bestand im Herbst 1989 praktisch gar nicht mehr und stellte auch kein Hindernis für die Ausreise der DDR Bürger über Ungarn nach Österreich dar. Ende September waren es insgesamt 32 500. Die SED bezichtigte Ungarn des Verrats am Sozialismus uns sandte einen Regierungsvertreter nach Budapest, um den gesamten Prozeß zu verlangsamen. Dieser kam aber ohne etwas erreicht zu haben wieder zurück. Auch hatte man in Ungarn selbst die Kontrolle über die Ausreisenden verloren und machte auch keine Versuche, diese zurückzuerobern. Auf die Bitte von DDR-Außenminister Fischer, ein Warschauer-Pakt-Treffen einzuberufen, um die Ungarn zur Räson zu bringen, antwortete Gorbatschow, die Zeit sei vorüber, als eine Abweichung von der allgemeinen Linie durch den Druck der Mehrheit habe korrigiert werden können. Die DDR stand allein da.
Währenddessen nahm der Umfang der Proteste und Demonstrationen innerhalb der DDR zu. Seit Juni wurden am 7. jeden Monats Protestaktionen veranstaltet, um an die Manipulation der Kommunalwahl vom 7. Mai zu erinnern. Darüber hinaus begannen am 4. September in Leipzig nach einem Friedensgebet in der Nikolaikirche etwa 1200 Menschen mit den \"Montagsdemonstrationen\", auf denen Forderungen nach Reise- und Versammlungsfreiheit laut wurden. Bis zum 25. September war die Teilnehmerzahl auf 5000 angewachsen. Am 2. Oktober belief sie sich bereits auf etwa 20000. Ermutigt durch den Erfolg dieser Aktionen wurden nun auch politische Organisationen gegründet, die sich zum Teil als Parteien, zum Teil als Bürgerbewegungen verstanden: am 10. September das Neue Forum, am 12. September Demokratie Jetzt, am 7. Oktober die Sozialdemokratische Partei in der DDR und am 29. Oktober der Demokratische Aufbruch. Die SED-Führung sah sich damit jetzt nicht nur den Liberalisierungstendenzen in Osteuropa und der Fluchtbewegung aus der DDR, sondern auch einer wachsenden und sich zunehmend organisierenden Opposition in der DDR gegenüber.
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