Die jüdischen Familien, die sich während der dreißiger Jahre in Deutschland befanden, lebten meist schon länger im Gebiet des damaligen Deutschland als die sogenannten Arier, die sich im Gefolge Hitlers nun zu Herrenmenschen machten, ohne eigentlich zu wissen, warum:
"Die deutschen Juden sind Deutsche. Seit mehr als 1600 Jahren wurzeln sie in deutscher Erde, atmen sie deutsche Luft, wachsen sie in deutscher Kultur auf, sprechen sie in deutscher Sprache [...]. Darf man ihre Nachkommen heute als Zugewanderte auf deutscher Erde bezeichnen?"(Centralverein Deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1932)
Dieses Manifest, das Angriffe auf das Heimatrecht der Juden in Deutschland zurückweist, soll als Einstieg in die nun folgende Betrachtung der jüdischen Strukturen in der deutschen Gesellschaft dienen.
2.1. Wie viele Juden lebten in Deutschland?
Anhand dieser Tabelle, die 1934 in "Der Morgen" veröffentlicht wurde, läßt sich klar erkennen, wie gering die Anzahl der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung war. Zwar könnte man sagen, daß diese Tabelle nur einen kleinen Ausschnitt der Gesamtstruktur zeigt, da nur Städte über 100.000 Einwohner mit mindestens 2000 Juden berücksichtigt worden sind, aber gerade in diesen Ballungszentren lebten 1933 70,8% der jüdischen Gesamtbevölkerung, so daß diese Tabelle repräsentativ ist.
Die Gesamtzahl der in Deutschland ansässigen Juden betrug 1925 564.558, wohingegen bis 1933 ein Rückgang auf 499.682 stattfand, was einen Anteil von 0,77% an der Gesamtbevölkerung ausmachte. Dies bedeutete einen neuen Tiefstand, den es seit 1816 in Deutschland nicht mehr gegeben hatte.
Die Gründe hierfür liegen in der zunehmenden Überalterung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und der Tatsache, daß die Volkszählung von 1933 im Juni, also nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten stattfand, als schon relativ viele junge Juden aus Deutschland geflohen waren, da sie die nahende Katastrophe erkannten.
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß in Berlin 1933 mit 160.564 Juden beinahe ein Drittel der Gesamtanzahl der Juden in Deutschland in einer einzigen Stadt lebte. Somit ist Berlin ein gutes Beispiel für die zunehmende Urbanisierung der Juden, denn obwohl die Anzahl der Juden in Berlin von 1925 bis 1933 abgenommen hat, liegt diese Abnahme mit 7,1% weit unter dem Reichsdurchschnitt, was zeigt, daß diese geringe Abnahmerate nur mit der Zuwanderung neuer Juden, die vielleicht vorher in eher ländlichen Gebieten lebten, zu erklären ist.
Den Gesamteindruck der zunehmend sinkenden Anzahl der Juden in Deutschland macht die obige Tabelle deutlich, so daß hier nicht auf weitere Einzelheiten eingegangen werden muß.
2.2. Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur der Juden
Hinsichtlich der Wirtschafts- und Berufsstruktur unterschied sich der jüdische Bevölkerungsteil von der Gesamtbevölkerung durch Konzentration in den Wirtschaftszweigen Handel, Industrie und Handwerk sowie in -der Öffentlichkeit dienenden- freien Berufen, was die folgenden beiden Tabellen deutlich zum Ausdruck bringen.
Die Wirtschaftsstruktur der Glaubensjuden in Deutschland Mitte 1933:
1.Land- und Forstwirtschaft
2/3. Industrie und Handwerk
4.Handel und Verkehr
5.Öffentlicher Dienst und private Dienstleistungen
6.Häusliche Dienste
7.Berufslose Selbständige
(aus: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialgeschichte 1936:13)
Diese und die später folgende Tabelle, die sich mehr mit dem Vergleich der Wirtschaftsstrukturen von Juden im Vergleich zum Rest der in Deutschland lebenden Personen beschäftigt, zeigen auf, daß das Gewicht der Juden, die arbeiteten, auf anderen Sektoren lagen als das der arbeitenden Nichtjuden. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich den prozentualen Anteil der Juden von 0,77% an der Gesamtbevölkerung ansieht und ihn mit der Anzahl der arbeitenden Juden in verschiedenen Wirtschaftsabteilungen vergleicht.
So lag die Anzahl der Juden, die ihr Geld in der Land- und Forstwirtschaft verdienten, mit 0,04% deutlich unter dem Durchschnittswert von 0,77%, was sicherlich mit der oben bereits erwähnten immer stärker werdenden Urbanisierung der in Deutschland lebenden Juden zusammenhing. Da es nur sehr wenige Juden gab, die auf dem Land lebten, konnte die Zahl der Bauern in ihren Reihen nicht so hoch sein wie bei dem Rest der deutschen Bevölkerung, von der prozentual weit mehr in ländlichen Gegenden lebten.
Dieser geringe Prozentsatz der auf dem Land arbeitenden Juden wurde jedoch durch den im Vergleich zum Durchschnitt hohen Prozentsatz von 2,37% der Juden, die in der Wirtschaftsabteilung Handwerk und Verkehr arbeiteten, ausgeglichen. Daß die Juden in diesem Bereich im Vergleich zum Durchschnitt von 0,77% deutlich überrepräsentiert waren, hing mit den verschiedenen wirtschaftlichen Traditionen zusammen.
"Die Gesamtbevölkerung differenzierte sich in ihrer wirtschaftlichen Betätigung von der Landwirtschaft her, die Juden vom Handel aus."(Kahn 1936:12) schrieb Herbert Kahn bereits 1936 in einem Aufsatz, der deutlich machte, daß diese Verteilung innerhalb der Berufsstruktur völlig normal war, was die Nazis bestritten. So benutzten diese das Bild des jüdischen Händlers, um diesen zu diffamieren, indem sie sagten, daß jeder Jude ein Halsabschneider und Betrüger sei, was daran festzumachen ist, daß so viele Juden im Handelsgewerbe tätig sind, was durch den oben genannten traditionellen Ansatz natürlich nicht haltbar ist.
Die nun folgende Tabelle macht die unterschiedlichen Arbeitsplätze von Juden und Nichtjuden noch einmal besonders deutlich, da in ihr direkt verglichen wird.
Vergleich der Wirtschaftsstruktur der Glaubensjuden und der Gesamtbevölkerung Mitte 1933:
(aus: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik 1936:15)
Dieses Schaubild stellt noch einmal deutlich die bereits oben beschriebenen Verhaltensweisen jüdischer Arbeitnehmer im Vergleich zu ihren nicht jüdischen Volksgenossen dar. Da bereits oben alles erklärt wurde, dient es nur noch einmal dazu, die Richtigkeit der oben beschriebenen Fakten zu belegen.
2.3. Reaktionen der Juden auf die Maßnahmen Hitlers - Flucht oder nicht?
Angesichts der, im Vergleich zur Gesamtbevölkerung, verschwindend kleinen Anzahl von Juden in Deutschland, ist es kaum nachzuvollziehen, daß ein Großteil der nationalsozialistischen Politik auf diese kleine Minderheit, die nicht einmal ein Prozent der Bevölkerung ausmachte, ausgerichtet war.
Ähnlich dachten wohl auch die meisten der ortsansässigen Juden, die den Terror zu Beginn des Naziregimes zwar ernst nahmen, sich jedoch in der eigentlichen Harmlosigkeit der Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte bestätigt sahen, da diese Phase bereits nach kurzer Zeit wieder aufhörte.
Phasen zur Kategorisierung der Maßnahmen des Regimes gegen jüdische Mitbürger gab es nach heutigen Erkenntnissen sechs, die nun im folgenden beschrieben werden:
Die oben erwähnte erste Phase dauerte vom 30.Januar bis zum Sommer 1933 und war durch lauten Terror gekennzeichnet. Diese Phase wurde von einer schleichenden Verfolgung abgelöst, die bis zum Frühjahr 1935 andauerte und der Grund dafür war, daß die meisten Juden dachten, wenn sie die erste Terrorphase überstanden hätten, könnten sie in Deutschland bleiben, da sie in der Zeit der zweiten Phase keine gewaltsame Ablehnung erfuhren.
Doch diese scheinbare Ruhe kehrte sich in kürzester Zeit in das Gegenteil um, als die antijüdische Politik der Nazis erneut zum Instrument des Terrors zurückkehrte. Diese Periode dauerte von Frühjahr bis September 1935 und war dadurch gekennzeichnet, daß an deren Ende der Erlaß der "Nürnberger Gesetze" stand, die neue Maßnahmen gegen die Juden ermöglichten, da nun nicht mehr einzelne Gruppen der NSDAP Randale zu machen brauchten, sondern in großem Stile, unter Berufung auf Gesetze, der Terror gerechtfertigt werden konnte.
Spätestens nach dieser zweiten Phase des Terrors mußte jedem in Deutschland lebenden Juden klar geworden sein, daß die Politik der Nazis allmählich von der zuerst betriebenen Ausweisungspolitik, die eher höher gestellte Regimegegner traf, und die mit den vielen unbekannteren jüdischen Normalbürger nicht durchzuführen war, zu einer den Leib und das Leben bedrohenden Politik umschwenkte, die von den pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen der Nürnberger Rassengesetze gerechtfertigt werden sollte.
Das Problem der meisten Juden in Deutschland war jedoch, daß sie sich weder entschließen konnten, aus ihrer Heimat zu emigrieren, in der die meisten Familien schon seit Jahrhunderten lebten, noch wußten, wohin sie gehen sollten, wenn sie Deutschland verließen.
Diese geringe Entschlußkraft der meisten Juden (natürlich gab es auch etliche, die Deutschland verließen, weil sie sahen, was geschehen würde) wurde noch durch die Politik der Nazis genährt, da diese, nach einem halben Jahr des Terrors mit der am Ende dieser Periode verabschiedeten "Nürnberger Gesetze", nun wieder zu einer ähnlichen Politik, wie die in der zweiten Phase praktizierten, zurückkehrten.
Diese relative Ruhe, die bis Herbst 1937 dauerte, war schließlich auch der Grund dafür, warum diejenigen unter den Juden, die vielleicht an eine Flucht aus Deutschland gedacht hatten, wieder in die Lethargie des Abwartens verfielen, die ab dem Herbst 1937 jäh vorbei war, als im Zuge der Kriegsvorbereitungen die fünfte Phase eingeleitet wurde, die in der Reichskristallnacht vom 9. Auf den 10.November 1938 gipfelte und den Beginn der letzten Phase bildete, die bis zum Emigrationsverbot von 1941 durch die nun völlige Entrechtung der in Deutschland verbliebenen Juden gekennzeichnet war.
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