1. Solon versteht sein Gedicht als Beitrag in einem die ganze Gemeinde betreffenden Diskurs, indem er nicht nur die Athener als Adressaten nennt, sondern einführend bereits von \"unserer Stadt\" spricht. Gleich darauf folgend (V.1-4) macht Solon zunächst deutlich, daß nicht die Götter die existentielle Krise der Polis verschuldet, den Bestand der Gemeinde gefährdet haben (wie es die Griechen ja von Troja und aus den Schriften Hesiods her kannten), sondern daß dieses Übel auf die Handlungsweisen der Polisbürger zurückzuführen sei, denn die Götter würden Athen niemals untergehen lassen und hätten mit der Stadt nur Gutes im Sinne. Mit diesen Worten will Solon der allgemeinen Verzweifelung aufgrund der Hilflosigkeit gegen die göttliche Fügung Einhalt gebieten und den Bürgern ihre Passivität nehmen.
2. Der ganze restliche Teil von Solons Überlegungen gilt folgend der Verurteilung des menschlichen, opportunistischen Handelns seiner Mitbürger, was Solon in V.5 und 6 mehr als klar herausstellt. Anschließend erstreckt sich bis Ende V.29 der quantitative Hauptteil des Gedichtes. In ihm entfaltet und begründet Solon seine Diagnose und zieht daraus allgemeine Schlußfolgerungen. Die gedanklichen Schritte lassen sich dabei wie folgt darstellen:
a) V.5-14: Als erstes zählt Solon die Fehler der Bürger in ihrem Verhalten auf, die auf grundlegende Mängel in ihrer moralischen Einstellung zurückgeführt werden können. Er wirft ihnen Unverstand (V.5) und Geldgier (V.6) vor, verbunden mit einem Unrechtsdenken bei den Polisführern (V.7). Damit meint Solon, daß nicht nur alle Bürger von einer Ethik der materiellen Verbesserung ihrer Oikossituation um jeden Preis geprägt sind, sondern zusätzlich auch die aktiven Unrechtshandlungen der aristokratischen Führungsschicht die Stadt immer tiefer in die Krise führen. Gerade für deren Fehlverhalten nennt Solon in den Versen 7-14 eine Reihe von Beispielen, denen gemeinsam ist, daß die Adligen ihr Agieren, im Gegensatz zum passiv \"mitlaufendem\" Demos, bewußt und zielgerichtet planen. Dieses äußert sich in ungerechter Gesinnung (V.7), großem Frevel (V.8), zügelloser Gier (V.9), Übermaß, Übermut und Götterfrevel (V.10-14). Somit zerstören die Adligen mit ihrem unbeherrschten Streben nach Reichtum das Zusammenleben in der Gemeinde, indem sie andere Mitbürger existentiell bedrohen oder sich an Gütern der Götter bzw. der Polis vergreifen. Die Metapher, daß die Freveltaten dabei nicht einmal vor dem Fundament der Dike, der Göttin des Rechts und des Ausgleichs, haltmachen (V.14), ist derart zu verstehen, daß Dikes Dasein ohne die traditionellen Regeln der menschlichen Gemeinschaft nicht denkbar ist, die Untaten der Adligen dabei aber die herkömmliche Ordnung der Gemeinde vernichten und somit die Göttin Dike selbst schänden.
Solons Beispiele sind aber keine systematische Aufzählung von Verhaltensphänomenen, sondern vielmehr eine symptomatische Darstellung des Grundübels ´Reichtum´, das, obwohl eigentlich der Lebensfreude angedacht, die Menschen zu Maßlosigkeit und Raffgier verführt und sie unmoralisch handeln läßt.
b) V.15-16: In diesen beiden Versen verleiht Solon seinem Vertrauen auf eine Strafe der geschändeten Göttin Nachdruck, die ja, wie bereits in den Versen 1-4 zu lesen, nur Gutes mit Athen im Sinne haben konnte. Dabei ist sie in Zeitpunkt und Art ihres Handelns aber völlig unabhängig von menschlichem Tun. Solon unterscheidet diesbezüglich aber die Opfer ihrer Rache und die Ursachen für die Stasissituation. Die göttliche Strafe trifft diejenigen, die sich des in V.9-14 geschilderten Fehlverhaltens schuldig gemacht haben, also konkret die Frevler selbst (oder ihre Nachkommen) als individuell handelnde Personen. Die Krankheit des Gemeinwesens ist für ihn jedoch keine Strafe der Götter, sondern ausschließlich das Ergebnis menschlicher Fehler, die mit dem, was Solon in den Versen 17-25 beschreibt, in einem unmittelbaren, gänzlich irdischen Zusammenhange stehen.
c) V.17-25: Hier beschreibt Solon, welche Folgen die Torheit aller Bürger und die Böswilligkeit der Aristokraten für die Stadt haben können: Knechtschaft, Stasis, (Bürger-)Krieg, Schuldversklavung. Er umreißt den verhängnisvollen Kreislauf von politischer Instabilität und Gewaltherrschaft, unter dem viele griechische Poleis nicht nur in der archaischen Zeit gelitten haben. Als Knechtschaft (V.18) ist dabei wohl an die Tyrannis als letztes Ziel aristokratischer Machenschaften gedacht, die aber wiederum unweigerlich Widerstände hervorrufen und die Stadt in weitere Stasiskämpfe verwickeln wird, an deren Ende die Auflösung der Gemeinde als sozialer Organismus steht. Solidarität wird dabei zugunsten von den Machtinteressen einzelner Adliger dienlichen Bündnissen aufgehoben, Bürger werden in deren physischer Existenz bedroht oder gar als Schuldknechte in die Fremde verkauft. Weiterhin gehen Stasis und Tyrannis auch in der Regel mit militärischer Intervention von außen einher. Zum einen droht also die innere Auflösung der Gemeinschaft durch den Verlust von Bürgern (im Bürgerkrieg, durch Versklavung) und durch die Zerstörung traditioneller Sozialverbände, zum anderen die Unterdrückung und Knechtschaft durch eine Tyrannis oder fremde Intervention.
d) V.26-29: Solon zieht in diesen Versen den Schluß aus alledem. Das die gesamte Stadt befallene Übel betrifft ausnahmslos jedes ihrer Mitglieder, wobei auch der eigene Oikos keinen Schutz davor bietet, sondern vielmehr im Zuge der allgemeinen Auflösung selbst ins Wanken gerät. Somit ist der Einzelne an der Basis seiner gesellschaftlichen Existenz bedroht, und der Kreis schließt sich: Der am Beginn von Solons Gedicht nur um seinen Oikos bemühte und am Gemeinwesen desinteressierte Bürger gefährdet durch die daraus resultierende Poliskrise seine eigene Existenz. Diese Entwicklung hält Solon für ebenso zwangsläufig (V.28) wie zuvor das Einschreiten der göttlichen Dike. Das Schicksal der Stadt und das jedes einzelnen Bürgers sind auf diese Weise also untrennbar miteinander verbunden.
3. Solons Selbstgewißheit setzt sich im folgenden Abschnitt fort, den er mit der wichtigen Zeile \"Dies ist die Lehre, die´s mich treibt Athens Volk zu verkünden:\" (V.30) einleitet. Sie ist der konzeptionelle Angelpunkt, der die beiden zwar unterschiedlich langen, aber inhaltlich gleich bedeutenden Teile des Gedichtes verbindet. Dabei kann man drei Elemente des solonischen Gedankens hervorheben:
a) Solon will seine Hörer belehren, was natürlich voraussetzt, daß er über Einsichten verfügt, welche jene (noch) nicht besitzen. Den Inhalt seiner Lehre hat er in den vorausgegangenen Teilen schon dargestellt, nämlich die Beilegung der Krise der Stadt. So folgt aus Solons Anspruch zu lehren auch, daß sich die Krise u.a. in der mangelnden Einsicht der Bürger in die von ihm beschriebenen Zusammenhänge begründet.
b) Solon stützt sich allein auf seine eigene Erkenntnis, er spricht nur für sich selbst und vertritt niemand anderen. Seine Dichtung beinhaltet keine göttlich offenbarten Wahrheiten, sondern menschliche Erfahrungen und deren rationelles Überarbeiten verbunden mit einem unabhängigen Urteil zur Lösung der in der Sphäre des Menschlichen liegenden Probleme. Solons Lehre entspringt dabei dem, was wir heute als \"Herz\" oder \"Seele\" bezeichnen, d.h. dem innersten Kern der menschlichen Existenz, dem Sitz von Emotion, Wille, Handlungsantrieben, Moralität. Sie ist demnach nicht nur eine Sache des menschlichen Verstandes, sondern wurzelt auch in tieferen Schichten der Seele und schöpft aus diesen den Antrieb, der Solon die Gewißheit der Richtigkeit seiner Gedankengänge vermittelt.
c) Solon nennt sich einen Lehrer seiner athenischen Mitbürger. Seine Aussagen entspringen nicht distanzierter philosophischer Reflexion, sondern sind eine Form des Handelns in einer konkreten politischen Situation und ein Aufruf an seine Mitbürger, selbiges zu tun oder umzusetzen.
4. Im Schlußteil (V.31-39) stellt Solon das Wirken von Eunomia dem von Dysnomia gegenüber, wobei Dysnomia für die Kräfte steht, die die Stadt ins Unglück stürzen können. Demgegenüber schafft Eunomia einen wohlgeordneten Zustand des Gemeinwesens. Wie dieser Zustand zustande kommen kann, schildert Solon in V.33-38 in einer Auflistung symptomatischer Veränderungen: Eunomia negiert das falsche Verhalten und die Übelstände, die in den Versen 5-14 und 17-25 beschrieben werden, und führt zu einer guten und vernünftigen Veränderung der Gemeinschaft. Sie ist dabei keine göttliche, sondern eine von Menschen ausgehende Kraft, ein zum Guten gerichtetes Korrelat zu Dysnomia. Und da ihre Tätigkeit darin besteht, das menschliche Fehlverhalten zu korrigieren und dessen schädliche Folgen zu beseitigen, stellt sie keinen Zustand dar, sondern eine neue Moral in der Gesamtheit der Tätigkeiten der Bürger, die die Polis durch das veränderte Verhalten ihrer Mitglieder weg von der moralischen Fehlorientierung (Dysnomie) funktionstüchtig machen soll.
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