Die gesellschaftlichen Umbrüche des 19. Jahrhunderts wurden durch wirtschaftliche
Entwicklungen nachhaltig beeinflusst. Die Industrialisierung des europäischen
Kontinents hat wegen ihrer Umwälzungen den Begriff einer Revolution mindstens
ebenso verdient wie die politischen Ereignisse von 1789 oder 1848.
Am Beginn standen Erfindungen, die bereits im 18. Jahrhundert in England gemacht
wurden. Sie betrafen vor allem die Textilindustrie und die Eisenerzeugung. Der
Einsatz neuer Maschinen anstelle der handwerklichen Fertigung ermöglichte die
Produktion größerer Mengen in kürzerer Zeit. Mit der Dampfmaschine (1765) wurde
die Industrie unabhängig von natürlichen Energien. Dampfschiff und
Dampflokomotive (1825) revolutionierten den Transport.
Ihren technischen Vorsprung konnten die Engländer noch das ganze 19. Jahrhundert
als Wirtschaftsvorteil nutzen. Um 1850 trat Deutschland schließlich in die
Antreibsphase (\"Take-off\") der industriellen Revolution. Außer technischen
Erfindungen waren auch der Ausbau des Verkehrswesens und der Gütertransport, der
Abbau von Zollschranken für die Entstehung eines Marktes und vor allem die
Freisetzung von Arbeitskräften und Anlagekapital notwendige Voraussetzungen für
die Industrialisierung. Immer größere Fabriken wurden eröffnet, in denen
arbeitsteilige Strukturen herrschten und freie Lohnarbeiter anstelle von
Handwerksgesellen beschäftigt wurden. In der Folgezeit kam es zu zahlreichen
Bankengründungen, denn mit der Betriebsgröße stieg auch der Kapitalbedarf.
Das Bürgertum profitierte von der wirtschaftlichen Liberalisierung. Mit der
Herstellung von Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit entstand ein neuer
Unternehmertyp, der ohne Zunftzwänge Werkstätten eröffnen und nach eigenem
Gutdünken Geld investieren konnte. Materielle Güter waren die Grundlage dieser
neuen gesellschaftlichen Klasse, die als Besitzbürgertum an wirtschaftlicher
Modernisierung und pragmatischem Handeln orientiert war.
Staatlicherseits wurde die vorteilhafte Wirtschaftsentwicklung bald gefördert.
Allerdings trat der Staat selten als Unternehmer auf, sondern versuchte private
Initiative zu wecken. Weiteren Einfluß nahm er außerdem zum einen mit der
Einrichtung von Gewerbeschulen und Technischen Hochschulen und zum anderen durch
den Ausbau des Verkehrssystems. Ab 1835 wurde das Eisenbahnnetz in kürzester Zeit
verdichtet und damit für die Wirtschaft nutzbar. Durch die Eisenbahn verkürzte
sich die Beförderungszeit der Güter drastisch, der Transport auf der Schiene war
konkurrenzlos billig und verband binnem kurzen auch die wichtigsten Städte und
Regionen Mittelauropas zu einem Absatzmarkt.
Lokomotivbau und Schienenproduktion erhöhten die Nachfrage nach
schwerindustriellen Erzeugnissen. Die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie nahm
einen rasanten Aufschwung, woran auch die Rüstung ihren Anteil hatte. Für den
Eisenbahnbau wurde zudem erstamals ein neues Finanzierungsinstrument in größerem
Umfang eingesetzt: die Aktiengesellschaft.
Innerhalb des Deutschen Bundes verliefen diese Entwicklungen nicht in allen
Staaten prallel. Besonders in Österreich kam die Industrialisierung nicht so
rasch in Gang und beschränkte sich auf einzelne Regionen. Dadurch blieb die
Volkswirtschaft wesentlich länger agrarisch orientiert. Preußen hingegen verfügte
seit 1815 mit dem Rheinland und Oberschlesien über bedeutende Erzvorkommen, die
die Voraussetzungen für den Aufstieg des Landes zur Industriemacht legten. Von
Westfalen, das seit dem Wiener Kongreß ebenfalls zu Preußen gehörte, gingen die
entscheidenden Schritte zur Industrie aus (Mechanisierung der Textil- und
Eisenindustrie sowie Liberalisierung des preußischen Berggesetzes 1851). An Rhein
und Ruhr, in Brandenburg, Sachsen und Oberschlesien entstanden seit der
Jahrhundertmitte Bergwerke, große Betriebe zur Eisenverhüttung sowie gewaltige
Großstahl- und Maschinenfabriken. Aus der Verwertung von Nebenprodukten, die bei
der Verkokung von Kohle anfallen, entwickelte sich ein neuer Wirtschaftszweig,
die chemische Industrie, deren Produkte (Synthetische Farben, Kunstdünger) großen
Absatz fanden. 1834 wurde außerdem der Deutsche Zollverein gegründet, ein
Wirtschaftsabkommen, das die Binnenzölle im innerdeutschen Warenverkehr aufhob
und so Deutschlands wirtschaftliche Einigung vorantrieb. Ihm traten unter
preußischer Führung nahezu alle deutschen Staaten bei. Österreich dagegen
beteiligte sich nicht und verlor deshalb weiter an Einfluß in Deutschland. Die
spätere \"kleindeutsche Lösung\" wurde durch diese wirtschaftliche Entwicklung
begünstigt.
Das revolutionäre Instrument der Industrialisierung war ihre außerordentliche
Geschwindigkeit. Sie spielte sich zwischen 1834 und 1873 ab und war zur Zeit der
Reichsgründung bereits erfolgreich abgeschlossen. In der deutschen
Volkswirtschaft bestimmte nicht mehr die Landwirtschaft, sondern die Industrie
den Konjunkturverlauf. Deutschland war zur zweitgrößten Industrienation in Europa
geworden.
3.Soziale Mißstände
Der deutsche Wirtschaftsboom hielt bis 1873 an. Seit 1848 hatte sich das deutsche
Volkseinkommen verdoppelt. Aber gerade jene Gesellschaftsschicht, die durch ihre
Arbeit den Aufschwung ermöglicht hatte, verelendete zusehends. Pauperismus und
Agarreform hatten eine große Bevölkerungsgruppe entstehen lassen, die auf dem
Land keine Erwerbsmöglichkeit mehr fand und in den Städten ihr Auskommen suchte.
Dort trafen die besitzlosen Landarbeiter und verarmten Kleinbauern auf arbeitslos
gewordene Handwerksgesellen und bildeten zusammen das moderne
Industrieproletariat.
Ihre Lebensbedingungen waren entsetzlich, denn Arbeitskraft war eine billige
Ware: Es gab zuviel davon auf dem Markt. Um sich gegen die ausländische, vor
allem britische Konkurrenz behaupten und die deutschen Industrieprodukte billig
halten zu können, wurden von den Unternehmen ohnehin nur geringe Löhne gezahlt.
Die Landflucht vergrößerte das Angebot von Arbeitern, was die Löhne zusätzlich
drückte und dazu führte, daß eine Familie nur durch Kinder- und Frauenarbeit
existieren konnte. Üblich waren Arbeitszeiten von 12, teilweise über 14 Stunden
an 6 bis 7 Tagen pro Woche ohne geregelte Erholung oder Urlaub. Die
Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz waren höchst mangelhaft, Unfälle an der
Tagesordnung. Es gab keine Vorsorge im Fall von Krankheit und Invalidität.
Altersversorgung oder Kündigungsschutz waren unbekannt. Jeder Konjunktureinbruch
hatte Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Das Qualifikationsniveau war gering, es
gab kaum Aufsteigschancen.
Der Bedarf an Arbeitskräften schellte in Zeiten der Hochkonjuntur sowie beim
Ausbau arbeitsintensiver Wirtschaftszweige wie dem Montanbereich sprunghaft an.
Aus immer größeren Entfernungen strömten Zuwanderer in die Städte und neuen
Ballungsgebieten, wo sie ihren Arbeitsplatz wiederum häufig wechslen mussten. Die
rasch gebauten Arbeiterunterkünfte waren nur primitiv ausgestattet, ihre
Überbelegung führte zu unhygienischen und krankheitsfördernden Wohnverhältnissen.
Die Lebenserwartungen unter solchen Bedingungen waren gering, die
Kindersterblichkeit hoch.
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