3.1.1. Innenpolitik
In der Innenpolitik der Jahre 1871-1884 gab es für Bismarck, der auf den Erhalt des Status Quo im Reich bedacht war, einige schwerwiegende Probleme zu lösen.
2 Aus: Weinmeister, Mark: Die Krise der deutschen Kolonialpolitik. Die großen Aufstände in Deutsch-Südwestafrika und Deutsch-Ostafrika 1904-07, Online im Internet: URL: https://members.aol.com/haukehaien/
Durch die Industrielle Revolution hatte sich die Arbeiterschaft, eine völlig neue Schicht, herausgebildet, die ein hartes Leben, geprägt durch Knochenarbeit in den Fabriken, lange Arbeitszeiten, niedrige Entlohnung und keinerlei sozialer Absicherung, fristete. Dazu kam noch die hohe Arbeitslosigkeit, die Industriellen konnten stets neue Arbeiter finden, wenn sie anderen kündigten. Dies hing auch mit dem starken Bevölkerungswachstum im deutschen Reich zusammen (von 1875-1913 erhöhte sich die Reichsbevölkerung um 25 Millionen = +60%), mit dem die Entwicklung der Industrie nicht analog einherging. Gerade in den großen deutschen Industrierevieren wie dem Ruhrgebiet, in Schlesien und den Großstädten gab es so eine verheerende Massenarmut, den sogenannten Pauperismus.
Genau bei dieser breiten Masse der Bevölkerung fand die SPD großen Anklang, wollte sie doch die Lage der Arbeiter verbessern, indem sie höhere Löhne, geringere Arbeitszeiten, besseren Kündigungsschutz und dergleichen mehr forderte. Um diese Ziele durchzusetzen, wurde auch mit Streiks gedroht, die dann auch durchgeführt wurden. Man sollte meinen, dass die Industriellen dies nicht weiter störte, warfen sie doch den streikenden Teil der Belegschaft hinaus und stellten neue ein. Doch mussten, je weiter die Maschinisierung fortschritt, diese Arbeiter angelernt werden. Dabei traten logischerweise Übergangsschwierigkeiten auf, die hohe Verluste brachten. So waren die Arbeitgeber besser bedient, wenn sie den Forderungen der Arbeiterschaft entgegenkamen. Dies wurde als großer Erfolg der Sozialdemokratie gewertet (zumindest bei den Arbeitern) und führte zu immer stärkerer Popularität der SPD. Bismarck konnte nicht daran gelegen sein, dass diese Partei immer mächtiger und mächtiger wurde, da sie ganz offen marxistische Ideale vertrat und auch durchsetzen wollte. Sie stellte zudem mit ihrer klassenkämpferischen Programmatik die bestehenden Herrschaftsverhältnisse in Frage, wollte diese sogar abschaffen. Dies war laut Marx´scher Lehre mit Revolution verbunden. Um seine eigene, aber auch des Kaisers und der Industriellen Macht zu sichern, versuchte Bismarck, die Sozialdemokratie mit allen Mitteln zu bekämpfen. So wurde 1878 das sogenannte Sozialistengesetz verabschiedet, nachdem Bismarck zwei Attentate auf den Kaiser den Sozialdemokraten angehängt hatte. Es verbot sämtliche sozialdemokratischen Organisationen und deren Presse, was die Entwicklung der Partei hemmen sollte. Im selben Atemzug jedoch versuchte Bismarck durch eine fortschrittliche Sozialpolitik der Sozialdemokratie die Wähler zu entfremden und für den bestehenden Staat zu gewinnen.
Dies geschah im einzelnen mit dem
- Krankenversicherungsgesetz, 1883. Die Krankenkassen, zu zwei Dritteln von den Erwerbstätigen und zu einem Drittel von den Arbeitgebern finanziert, müssen die Mitglieder bei Krankheit unterstützen. Sie erhalten kostenlose ärztliche Behandlung und Krankengeld.
- Unfallversicherungsgesetz, 1884. Die Arbeitgeber müssen eine Krankenkasse finanzieren, die nach Arbeitsunfällen die medizinische Behandlung und, falls der Betroffene erwerbsunfähig wird, eine Rente zahlen müssen.
- Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz, 1889. Garantiert jedem Arbeitnehmer vom 70. Lebensjahr an oder bei Invalidität eine Rente. Finanziert wird diese Kasse durch Staat, Arbeiter und Arbeitgeber.³
Diese Maßnahmen brachten Deutschland im Ausland zwar Anerkennung ein, linderten jedoch nicht das Problem, dass die Sozialdemokratie nach wie vor stärker wurde. Lediglich Ungerechtigkeiten im Wahlsystem war es zu verdanken, dass die SPD erst 1912 stärkste Fraktion im Reichstag wurde. Vor diesem Hintergrund einer potenziell staatsgefährdenden Sozialdemokratie sahen viele in der überseeischen Expansion ein Mittel, die sozialen Spannungen "nach außen", also in die Peripherie des Reiches (gemeint waren noch anzuschaffende Kolonien) zu lenken und so von den Konflikten im Innern des Reiches abzulenken. Ein namhafter Vertreter dieser Meinung war der Theologe Friedrich Fabri (1824-1891). Er vertrat die Meinung, dass jeder mächtige Staat ein Gebiet benötige, in das er Produktionsüberschüsse ableiten und deren Erzeugnisse und Rohstoffe einführen könne. Das Deutsche Reich müsse auch wegen des starken Bevölkerungswachstums Kolonialbesitz erwerben, in das die "überschüssige" Bevölkerung auswandern könne, ein "Sicherheitsventil" an dem bis zum Bersten unter Druck stehenden deutschen Staat. Auch würden durch Kolonialerwerb der Nationalstolz und das Vertrauen in die bestehenden Herrschaftsverhältnisse gekräftigt. So sollte nach Fabris Vorstellung sinngemäß durch die Expansion die bestehenden sozialen Gegensätze überdeckt werden.4
Eine weitere politische Gruppe waren die Liberalen, die ihre Wählerschaft meist im Bürgertum hatten. Bis 1877 waren sie die stärkste Fraktion.
³ Vgl. Alter, Peter u.a. : Tempora Grundriss der Geschichte Band 2, Klett Verlag, 1989, S. 170
4 Vgl. Brückmann, Asmut: Die europäische Expansion, Klett Verlag, 1993, S. 69-70
Das Bündnis zwischen Bismarck und den Liberalen zerbrach erst 1879, als auf massiven Druck von Industriellen und Agrariern ein Schutzzollsystem eingeführt wurde. Der von den Liberalen, die ohnehin nicht viel vom Konservativismus hielten, geforderte Freihandel war damit de facto abgeschafft. Besonders erhöht wurden die Zölle auf importiertes Eisen sowie Getreide, da infolge der Überproduktion der Wirtschaft diese ihre Produkte nicht mehr im Inland absetzen konnte, weil eine starke Konkurrenz von Industriellen aus anderen Ländern aufgetreten war. Um die Konjunktur wieder anzukurbeln, setzte Bismarck infolge des gesättigten Inlandsmarktes auf Förderung des Außenhandels, wozu auch die Gewinnung neuer Absatz- und auch Investitionsgebiete gehörte. Dies geschah auch als Reaktion auf den oben erwähnten enormen Druck, den mitgliederstarke Verbände auf die Regierung ausübten.
Dies waren zum Einen die Mitglieder des späteren "Alldeutsche Verbandes", die das Nationalbewusstsein beleben, das Deutschtum im Ausland unterstützten und eine deutsche Kolonialpolitik forderten. Sie waren der Ansicht, dass Deutschland unbedingt Kolonialbesitz erwerben solle, um die Wirtschaft zu stärken und damit die Konjunktur anzukurbeln. Es handelt sich hierbei also um ein Organ des Bürgertums und der Industriellen, in etwa vergleichbar mit dem heutigen "Hauptverband der deutschen Industrie" (HDI).
Zum Anderen gab es noch den "Deutschen Flottenverein", der sich für eine umfassende Erweiterung der deutschen Flotillie einsetzte. Diesem Verband gehörten Schwerindustrielle und reiche Bürger an, die ein Interesse daran hatten, dass die deutsche Eisen- und Stahlindustrie einen Aufschwung erlebte. Denn in erster Linie sollten nicht etwa Handelsschiffe, sondern Kriegsschiffe gebaut werden. Dafür wurden große Mengen an Panzerplatten, Kanonen und dergleichen benötigt, was der Schwerindustrie reiche Gewinne versprach.
3.1.2. Wirtschaft
Einige der bereits im Punkt 4.1.1. "Innenpolitik" erwähnten Punkte sind im eigentlichen Sinne wirtschaftliche Themen. Da dieser Wirtschaftsaspekt jedoch nur kurz angerissen wurde (um Irritationen zu vermeiden), gehe ich nun noch einmal im Einzelnen auf die wirtschaftlichen Motive für eine Kolonisation ein.
Um die Argumente und Forderungen der Industriellen zu verstehen, muss man sich über wirtschaftlichen Umstände der damaligen Zeit klar werden.
Mit dem Durchbruch der Industriellen Revolution ging die Hochkonjunkturphase von 1850-1873 einher. Ein nie zuvor gekanntes Wirtschaftswachstum entstand, die Euphorie desbezüglich war riesengroß. Doch kam es ab 1873 zu wiederholten Wachstumsstörungen in der deutschen Wirtschaft, womit eine auffällige Verlangsamung des Wachstums eintrat. Das Wachstum hielt zwar stetig an, doch durch den "Boom" der 1850er und 1860er Jahre entstand der Eindruck einer bis dato unbekannten Stagnation in der Industrie. Man konnte in der Tat von einer krisenhaften Entwicklungsphase sprechen, viele Bürger glaubten aufgrund der häufigen Schwankungen in einer Dauerkrise zu leben. 5
Auch die Industrie hatte nun dem immensen Ausbau ihrer Fertigungskapazitäten Rechnung zu tragen: Es trat eine Überproduktion ein. Die Produkte fanden kaum noch Absatz, und infolge dessen brachen die Umsätze und Gewinne der Firmen ein; dies galt besonders für die Eisen- und Stahlproduktion, die ja die Schlüsselindustrie der Industriellen Revolution bildete. Von ihr waren vor allem die Kohlezechen, damals die größten Arbeitgeber im Ruhrgebiet, im Saarland und in Schlesien, abhängig. Um den Absatz zu stabilisieren, wurde 1879 ein Schutzzollsystem eingeführt, das den deutschen Markt vor billigen Produkten (vor allem aus England) schützen sollte. Jedoch war der Markt bald darauf wieder gesättigt, so dass andere Mittel und Wege gefunden werden mussten.
Um mehr Produkte absetzen zu können, hatte man verschiedene Möglichkeiten.
Zum Einen versuchte man sein Absatzgebiet zu vergrößern. Doch die anderen Industrieländer hatten zum Schutze ihrer Industrie ebenfalls Schutzzölle eingeführt. Man hätte schon billiger verkaufen müssen, als man produzieren konnte, diese Möglichkeit war für die Industriellen verständlicherweise nicht denkbar, denn man konnte solche Verluste nur wieder hereinfahren, indem man ein Monopol aufbaute und die Preise diktierte. Dies war jedoch de facto in den anderen Industrieländern nicht möglich.
Zum Anderen konnte man versuchen, seine Produktionskosten zu senken. Dies konnte entweder durch verstärkte Maschinisierung oder Personalabbau geschehen, oder (im produzierenden Gewerbe) durch billigere Rohstoffe. Diese beiden wesentlichen Punkte, Vergrößerung des Absatzgebietes und billigere Rohstoffe, konnten nach Ansicht vieler Industrieller am besten gelöst werden, indem das Deutsche Reich Kolonien erwarb.
5 Vgl. Wehler, H.-U.: Bismarck und der Imperialismus, Suhrkamp Verlag 1984, S. 53-67
Man erhoffte sich durch Ausbeutung dieser Länder konkurrenzlos günstige Rohstoffe beziehen, zum Anderen aber auch dort die hergestellten Fertigwaren absetzen zu können. Deutschland könne, so die einhellige Meinung der Industriellen und des Bürgertums, seine Waren derzeit nur auf den neutralen Märkten (gemeint ist das Ausland, ausgenommen Kolonien) verkaufen, wo jedoch der Preiskampf am größten sei. Man müsse daher monopolisierte Absatzgebiete schaffen, also Kolonien erwerben, um den deutschen Außenhandel in Schwung zu bringen. 6 Vorbild für diese These war das britische Empire, das nach Ansicht der Industriellen und des Bürgertums solche Märkte in seinen Kolonien hatte und nicht umsonst die (zu der Zeit) größte und mächtigste Industrienation war.
3.1.3. Außenpolitik
Direkte außenpolitische Gründe für den Erwerb von Kolonien gab es eigentlich nicht. Bismarck stand nach wie vor zu seiner Meinung, dass Deutsche Reich brauche keine Kolonien. Diese Einstellung war wohlüberlegt, wollte Bismarck doch den mächtepolitischen Status Quo in Europa erhalten. Dabei wäre eine Forderung von Seiten des Reichskanzlers ein Affront den Engländern und besonders den Franzosen gegenüber gewesen. Gerade die Engländer hatten Grund dazu, einer deutschen Kolonialpolitik mit Ablehnung gegenüberzustehen, da ihre Rolle als Handels- und Seemacht gefährdet worden wäre. Denn um den deutschen Handelsschiffen sichere Seewege zu den Besitzungen in Übersee zu gewährleisten, hätte es einer große Flotte bedurft. Da das Deutsche Reich auf dem europäischen Festland bereits die sowohl wirtschaftlich als vor allem auch militärisch mächtigste Macht war, wäre dann das System der Pentarchie, das eine Hegemonialherrschaft irgendeiner europäischen Großmacht verhindern sollte, gefährdet gewesen. England konnte sich militärisch nur auf seine Seestreitkräfte stützen und beäugte jedwede Flottenrüstung anderer Großmächte aufs Kritischte; ein englischer Grundsatz war ja der "Two Powers Standard", der besagte, dass die britische Flotte mindestens genau so stark sein solle wie die Flotten zweier anderer Staaten zusammen. Zudem herrschte bei den bestehenden Kolonialmächten, besonders bei England und Frankreich, die Angst, dass Deutschland
6 Vgl. Wehler, H.-U.: Bismarck und der Imperialismus, Suhrkamp Verlag 1984, S. 127-135
eventuelle Kolonien (zum Beispiel in Afrika) als Brückenkopf für weitere Inbesitznahme von britischen oder französischen Kolonialgebieten nutzen könnte.
Bismarck hatte also nicht direkt außenpolitische Gründe für Kolonien-Erwerb, jedoch war die politische Lage 1884 günstig dafür. Die Truppen der Briten und Franzosen waren durch Differenzen in Nordafrika gebunden, konnten somit einer deutschen Kolonisation nicht entgegentreten.
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