"Vor allem das von Leipzig aus nach allen Richtungen weit hin sich erstreckende ebene und feste Territorium\" lade dazu ein, und hinzu käme als zweiter Umstand die Eigenschaft des hiesigen Platzes als Herzkammer des deutschen Binnen-Verkehrs, des Buchhandels und der deutschen Fabrik-Industrie. Die Zahl der Hin- und Her-Reisenden und der Durch-Reisenden mit Einschluß der Meß-Fremden ist hier größer als an irgend einem anderem Ort in Deutschland ...\"
Mit diesen und weiteren Argumenten begründete Friedrich List seine "Eingabe an die hohen und höchsten Behörden im Königreich Sachsen\", in der er den Beginn des Eisenbahnbaus vorschlägt. Die Schrift weist schon in dem langen Titel "Ueber ein sächsisches Eisenbahn-System als Grundlage eines allgemeinen deutschen Eisenbahn-Systems und insbesondere über die Anlegung einer Eisenbahn von Leipzig nach Dresden\" auf das weitgestreckte Anliegen hin; sie erscheint 1833 in dem Leipziger Verlag von A. G. Liebeskind, der im Haus Poststraße 9 seinen Sitz hatte. Dieses Gebäude, in dem List auch wohnte, stand in der kleinen Straße nördlich von unserer ehemaligen Hauptpost und existiert heute nicht mehr.
Friedrich List, am 6. August 1789 als Sohn eines Gerbers im württembergischen Reutlingen geboren, erwarb sich nach dem Volksschulbesuch autodidaktisch ein reiches Wissen. Er wird mit 28 Jahren zum Professsor für Staatskunde an der Universität Tübingen berufen und gehört zu den Mitbegründern des "Handelsvereins\", des Vorläufers des deutschen Zollvereins. Als er in der Reutlinger Ständeversammlung die verknöcherte Staatsbürokratie attackiert, ergeht Anklage wegen "Staatsverleumdung\". Der Abgeordnete List entzieht sich der Strafe durch Flucht. Nach zahlreichen Zwischenstationen lässt er sich in den USA nieder. Dort ist er am Bau einer kleinen Eisenbahn beteiligt, die ein Kohlelager erschließen soll. Infolge des billigen Transportes übertreffen die Absatzchancen alle Erwartungen;
außerdem wird die zuvor menschenleere Gegend längs der Strecke rasch besiedelt. Diese Erfolge regen den bürgerlichen Patrioten Friedrich List zu einem Engagement für den Eisenbahnbau nach der Rückkehr aus den USA an. Da er in Hamburg auf taube Ohren stößt, übersiedelt er 1833 nach Leipzig.
Viele ökonomische Fakten und Prognosen zum wirtschaftlichen Aufschwung lässt List in seine Schrift einfließen. So erhofft er von einem kostengünstigen Bahntransport von Lebensmitteln und Brennstoffen auch "größeres Wohlbefinden der arbeitenden Classe\". Um den Durchbruch zu erzielen, macht er natürlich der Bourgeoisie die Sache besonders schmackhaft: Er prophezeit "eine Dividende von 15 bis 20 Prozent\".
500 Exemplare der Schrift werden an maßgebliche Personen und Behörden verteilt, und bereits im Herbst 1833 finden erste Konferenzen statt.Vertreter der sächsischen Regierung und namenhafte Leipziger Bankiers wie Harkort, Dufour und Lampe bereiten den Bahnbau vor. Ab April 1834 laufen alle Fäden bei dem "Eisenbahn-Comité zu Leipzig\" unter dem Vorsitz von Gustav Harkort zusammen.
Das Comité gründet eine Aktiengesellschaft, die "Leipzig-Dresdner Eisenbahn-Compagnie\", in der das Bank- und Handelskapital einer stark auf englische Interessen ausgerichteten Gruppe dominiert. Schienen und Lokomotiven werden deshalb aus Großbritannien bezogen. Auch die ersten Lokomotivführer kommen aus dem Inselreich. (Zwischendurch ist Ende 1835 zwischen Nürnberg und Fürth eine sechs Kilometer lange Strecke eröffnet worden, die aber nie über lokale Bedeutung hinausgelangte.)
Zahlreiche kleine sächsische Maschinenwerkstätten beklagen sich, nicht zum Bahnbau - längs der heute noch befahrenen Trasse zwischen Leipzig und Dresden - herangezogen zu werden. Einige Vorfälle bei Eröffnung der Gesamtstrecke im April 1839 - die erste Teilstrecke zwischen Leipzig und Althen wurde bereits zwei Jahre vorher erprobt - machen den Konkurrenzkampf mit dem sich allmählich entwickelnden Industriekapital schlaglichtartig deutlich.
Johann Andreas Schubert (1808 - 1870), verdienstvoller Professor an der 1828 entstandenen "Königlich Technischen Bildungsanstalt\", dem Vorläufer der heutigen Technischen Universität Dresden, hatte 1836 in Dresden-Übigau einen "Actien-Maschinenbau-Verein\" gegründet. Schon zwei Jahre darauf präsentierte er mit der "Saxonia\" die erste von ihm gebaute Lokomotive, für die er zudem nur einheimische Rohstoffe verwendete. Weil es ihm verwehrt wurde, zwischen Leipzig und Dresden einen der drei Eröffnungszüge zu fahren, rollte er mit der "Saxonia\" dem Fest
konvoi hinterher - nicht aus persönlichen Prestigegründen, sondern um nachdrücklich auf die Übigauer Maschinenfabrik aufmerksam zu machen. Und bei der Rückkehr in die Messestadt am 8. April 1839 passierte es: Die Bahnschranke in heutiger Form gibt es noch nicht. Straßenübergänge werden durch Balken gesichert, die man horizontal um 90 Grad dreht. Ist die Chaussee freigegeben, steht die Sperre über dem Gleis. So auch am Nachmittag besagten Tages. Den Streckenwärtern war nichts vom Nachzügler gesagt; sie sind nach Hause gegangen. Jede Reaktion auf den schrillen Ton der Dampfpfeife bleibt also aus. Professor Schubert, der in Frack und Zylinder auf der "Saxonia\" steht, macht deshalb kurzen Prozess. Mit den harten Eichenholzpuffern seiner Lokomotive durchbricht er das Hindernis.
Wenig später, bei Priestewitz, kommt es noch schlimmer. Durch eine absichtlich falsch gestellte Weiche ist Schubert, wie er später berichtet, "an ein englisches Lokomotiv mit voller Geschwindigkeit anzufahren gezwungen, wobei jedoch weder ich noch meine Lokomotive wesentlich beschädigt wurde\". Das Attentat ist missglückt, die Aktionäre der "Companie\" konnten den unliebsamen Konkurrenten nicht ausschalten. Wenige Monate später übernehmen sie die "Saxonia\" für den Streckendienst und wiederholen dabei ein schäbiges Spiel: Da diese Lokomotive nun nicht mehr als neuwertig gilt, begleichen sie nur den halben Preis. Außerdem muss das Übigauer Werk eine inzwischen schon unbrauchbar gewordene englische Lok in Zahlung nehmen.
Bei den Festreden und Auszeichnungen zur Eröffnungsfahrt war neben Schubert auch Friedrich List übergangen worden. Durch seinen Einsatz gegen feudale Engstirnigkeit und politischen Partikularismus galt er der herrschenden Reaktion als subspekt. Die "Compagnie\" zahlte ihm 1837 für sein Projekt 2000 Taler aus und schob ihn ab. 1846 setzte er voller Verzweiflung seinem Leben ein Ende; für sein Ziel eines einheitlichen Verkehrsnetzes, das ganz im Interesse der Industriebourgeoisie lag, sah er keine Chance mehr, und auch die weitere Entwicklung in der Messestadt schien diese Ansicht vorerst zu bestätigen.
Der Dresdner Bahnhof zu Leipzig - 1839 zunächst nicht mehr als eine von Eichensäulen getragene offene Halle und deshalb Personeneinsteigeschuppen genannt, der durch kleinere An- und Umbauten einige Male die äußeren Konturen verändert - wird rückschauend als "erster Leipziger Hauptbahnhof\" bezeichnet; nicht zuletzt auch deshalb, weil durch die mit ihm verbundene erste deutsche Fernbahnstrecke das gesamte Eisenbahnwesen angekurbelt wird. Das allerdings nicht nach einem einheitlichen Plan, wie er List vorschwebte. Aktiengesellschaften bauen unabhängig voneinander neue
Strecken. In Leipzig entstehen fünf weitere Kopfbahnhöfe; so bereits 1840 unmittelbar westlich von dem hölzernen Ahnen der Magdeburger und wiederum daneben 1856 der Thüringer Bahnhof. Zu diesem Trio auf dem Gelände des heutigen Hauptbahnhofs kommt 1859 - etwa in Höhe der Apelstraße - der Berliner Bahnhof hinzu. 1874 wird der Eilenburger Bahnhof in Betrieb genommen.
Dieser Bahnbau steht im wechselseitigen Zusammenhang mit manchen Entwicklungen in Leipzig. Noch vor den Gründerjahren, zwischen 1850 und 1870, verdoppelte sich die Zahl der Fabriken. Die Handelsmetropole wird zunehmend vom Profil einer Industriestadt geprägt. Vororte wachsen zu Vorstädten. Die Einwohnerzahl, 41 000 im Jahre 1830, übersteigt 1871 mit 107 000 das Großstadtlimit.1899 gibt es bereits 455 000 Leipziger. Und ebenso wächst die Zahl der Reisenden. Allein auf dem Dresdner Bahnhof wird 1861 die Millionengrenze überschritten.
Die Eigenständigkeit der sechs Leipziger Bahnhöfe erweist sich schon bald als Anachronismus. Bereits 1851 wird eine erste Verbindungsbahn zwischen dem Dresdner und dem Bayrischen Bahnhof gebaut. Das Umsteigen bleibt dennoch recht umständlich. Wer beispielsweise vom Magdeburger zum Dresdner oder Thüringer will, muss 350 beziehungsweise 600 Meter laufen. Vom Berliner zum Bayrischen sind es sogar vier Kilometer. Und nicht minder behindert ist der Güterumschlag. So entstehen vor rund 120 Jahren erste Pläne für einen "Hauptbahnhof\".
Die komplizierten Eigentumsverhältnisse haben sich aus diversen Gründen, unter anderem durch Kapitalmangel der Aktiengesellschaften, etwas vereinfacht. Der Bayrische und Dresdner Bahnhof sowie die dazugehörigen Strecken gehören ab 1847 beziehungsweise 1876 dem sächsischen Staat. Alle anderen Leipziger Bahnanlagen werden 1886 von Preußen übernommen. Damit stehen sich nur noch zwei Partner gegenüber, die ab 1887 verhandeln - 15 Jahre lang - bis die vielfältigen Sonderinteressen unter einen Hut gebracht sind.
Die sächsischen Staatsbahnen können sich mit ihrem Vorhaben, im Schönefelder Gebiet einen großen Durchgangsbahnhof zu bauen, nicht durchsetzen. Preußen befürchtet davon Konkurrenz für den schon existierenden Hallenser Hauptbahnhof, über den es im Alleinbesitz verfügt, und der Rat zu Leipzig erstrebt eine Anlage nahe dem Stadtzentrum. 1902 kommt es schließlich zum Vertrag, nach dem der heutige Hauptbahnhof errichtet wird.
Zuerst entstehen kleine Bahnhöfe, Werkstätten und andere Anlagen am Rande der Stadt, unter anderem in Connewitz, Gaschwitz, Engelsdorf, Paunsdorf, Plagwitz, Wahren und Thekla; entweder unter sächsischer oder unter preußischer Obhut, bis dann 1907 mit dem Abbruch des Thüringer Bahnhofs der eigentliche Bau von West nach Ost beginnt. Am 1. Februar 1913 fährt zum ersten Mal ein Zug vom Dresdner Bahnhof ab. Der einstige Grundstein des ältesten Leipziger Bahnhofs wird beim Abbruch geborgen und am 4. Dezember 1915 als Schlussstein in die linke Empore des neuen Hauptbahnhofs eingemauert. Die Gesamtkosten bis zu diesem Tag: 137 Millionen Mark.
Die Bahnsteige 1 bis 13 werden von preußischen, die Nummern 14 bis 26 von sächsischen Behörden verwaltet. Zwei getrennte Eingangshallen, zwei Wartesäle und andere Dopplungen erinnern noch heute an diesen Dualismus, der bis zum Anfang der 30er Jahre bestehen bleibt. Die strenge Trennung reichte einst fast bis zum letzten Detail der Betriebseinrichtungen. Es gab getrennte Stellwerke, Werkstätten sowie Elektrizitäts- und Gasanlagen, zwei Beschilderungsordnungen, zwei Uhrensysteme und unzählige weitere, peinlich respektierte sächsische wie preußische Dispositionen. Wir wissen allerdings nicht, wer für die Uhr auf dem mittleren Bahnsteig zwischen den Gleisen 13 und 14 zuständig war!
Der neue Leipziger Hauptbahnhof bricht manche Rekorde: Er ist damals wie heute der größte Bahnhof in Europa. (Übertroffen wird er nur von dem Grand Central Terminal in New York - 41 Gleise auf der oberen, 26 Gleise auf der unteren Ebene - die zwischen 1903 und 1913 entstand.) Die gesamte überdachte Fläche beträgt über 80.000 Quadratmeter: Zwölf Fußballfelder oder 13mal den Bahnhof Berlin-Alexanderplatz könnte man hier bequem unterbringen. Von allen Monumentalbauten der Wilhelminischen Ära schließlich gilt der Leipziger Bahnhof durch seine ausgewogene, an der Funktion orientierte Bauwerke als sinnvollstes wie angenehmes Bauwerk - ein Umstand, dem es unter anderem zu danken ist, dass nach den schlimmen Ereignissen des zweiten Weltkrieges die Entscheidung zugunsten des aufwendigen Wiederaufbaues des zerstörten Bahnhofs bei gleichzeitiger Modernisierung fällt.
Auf den Tag genau 28 Jahre nach dem Einmauern des Schlusssteines, am 4. Dezember 1943, und nochmals am 7. Juli 1944 werfen angloamerikanische Bombenverbände ihre verderbenbringende Last ab, sorgen binnen Minutenfristen für einen Schuttberg von 38.000 Kubikmetern.
Bereits zur ersten Leipziger Friedensmesse im Mai 1946 können 170.000 Besucher auf den teilweise wiederhergestellten Randbahnsteige anreisen. 1949 beziehungsweise 1951 sind die beiden Eingangshallen schöner als zuvor hergestellt und 1954 alle 26 Bahnsteige wieder voll funktionsfähig. Der einstmals dunkle, unansehnliche Verbindungsgang zwischen beiden Hallen präsentiert sich ab 1958 als moderne Ladenstrasse. In der Hauptphase des Wiederaufbaus zwischen 1955 und 1965 werden unter anderem die 7.000 Quadratmeter große Betondecke unter dem Querbahnsteig erneuert und alle Längsbahnsteige mit insgesamt 16.200 Quadratmetern Drahtglas überdacht.
Von 1995 bis 2000 befand sich der Leipziger Hauptbahnhof nun im Umbau. Nachdem der Querbahnsteig mit den beiden Eingangshallen modernisiert wurde, folgte die Erneuerung der Stahlkonstruktion der Längsbahnsteige. Diese Umgestaltung durch die Deutsche Bahn AG und weiteren Investoren führte zu einer Belebung des Bahnhofes. Der Umbau fand bei vollem Betrieb statt.
Die Baumaßnahmen begannen 1995 mit dem Umbau der Querbahnsteighalle. Man öffnete den Fußboden, machte die Etagen darunter zugänglich und baute sie als Ladenzeilen aus. Verbunden sind sie nun durch Rolltreppen und Fahrstühle. Im dritten und vierten Obergeschoß entstanden fast 8000 Quadratmeter Büroräume. Die Wartesäale wurden wieder in ihren alten Zustand versetzt, einer davon ist die zweite DB-Lounge neben der in Frankfurt/Main. Der Sandstein der Wände des Querbahnsteiggebäudes innen und außen erstrahlt nun wieder in hellem Gelb. Ein Zentrum mit Fahrkarten- und Informationsschaltern befindet sich unterhalb in der Mitte der Halle. Der Querbahnsteig wurde zusätzlich mit einer Fußbodenheizung versehen. Die mächtige stählerne Bahnsteighallenkonstruktion wurde inzwischen ausgewechselt und während der Bauarbeiten wurde ein provisorisches Zwischendach eingezogen. Im Bahnhofsgebäude und an der Westseite gibt es jetzt jeweils ein Parkhaus. Auch der Bahnhofsvorplatz ist in die Baumaßnahmen mit einbezogen worden. Die Westhalle erhielt einen unterirdischen Ausgang zu den Straßenbahnhaltestellen und dem Stadtzentrum, wobei 700 bis 1400 Bauarbeiter gleichzeitig am Umbau beschäftigt waren.
Seit 12. November 1997 ist die Querbahnsteighalle nun wieder geöffnet und seit her macht sie ein Fünftel der gesamten Verkaufsfläche der Leipziger Innenstadt aus.
Unser Hauptbahnhof gehörte zu den Objekten, die in der Zentralen Denkmalliste der DDR standen. Durch seine wechselvolle Geschichte ist er zugleich ein Mahnmal für die Erhaltung des Friedens.
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