Varro hat mit seinen heute verlorenen Disciplinae (33 v. Chr.) - sie umfaßte neben den septem artes liberales (Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Quadrivium: Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik) noch die Medizin und die Architektur - zum erstenmal ein fächerübergreifendes Bildungsprogramm entworfen. Der junge Augustin plante unter demselben Titel ein ähnliches Unterfangen. Die Reihe der enzyklopädischen Sammlungen wurde dann fortgesetzt von Martianus, Capella, Boethius und Cassiodor.
Der Wissensstoff der Antike fand zwar durch diese enzyklopädischen Werke eine beachtliche Verbreitung und tiefgreifende Nachwirkung, prägten sie doch in entscheidendem Maß den Wissenshorizont des Mittelalters. Die Verknappung auf einen Grundstock von immer wieder weitertradiertem, kaum noch reflektiertem Schulwissen führte aber auch zu einer empfindlichen Reduzierung und Verkümmerung der Fülle bisher erarbeiteter naturwissenschaftlicher Forschung. Das breitgefächerte Spektrum antiker Naturwissenschaften ließ sich im Quadrivium nicht unterbringen, fanden doch darin Biologie, Physik und Chemie keinen Platz.
Das letzte bedeutende Werk in dieser Reihe, das den Wissensstoff der Antike, weit über den Rahmen der septem artes liberales hinaus, zusammenfaßt und gleichsam als Vermächtnis ans Mittelalter weitergibt, sind die Etymologiae Bischofs Isidor von Sevilla (600 - 636 n. Chr. Bischof von Sevilla). Die Vermittlerrolle, die dem Werk später in viel umfassenderem Sinn zukam, war schon in seiner Anlage begründet, wollte es doch der nachantiken klerikalen und höfischen Gesellschaft des Westgotenreichs den Zugang zur antiken Bildung eröffnen. Von den 20 Büchern der Etymologiae sind gerade 3 den artes liberales gewidmet; die Bücher 4 - 20 beziehen weitere Berichte der Theologie, der Naturphilosophie, der Anthropologie, der Medizin, des Rechts, der Kulturgeschichte u. a. m. mit ein. Für das Gebiet der Naturwissenschaften von Belang sind innerhalb des Quadriviums die Angaben über die Kosmologie; außerhalb der Freien Künste wird auf die Zoologie, auf die Mineralogie und Metallurgie und auf die Botanik der Nutzpflanzen (im Zusammenhang mit der Landwirtschaft) eingegangen.
Zur Wiederentdeckung der antiken Naturwissenschaften in der Renaissance (AS: 123)
Abgesehen vom kärglichen Rest antiker Gelehrsamkeit, der sich in den späten Enzyklopädien des Cassiodor und des Isidor ins Mittelalter hinein retten konnten, stand immerhin die Naturalis historia des Plinius die ganze Zeit zur Verfügung; von ihrer Verbreitung und Beliebtheit zeugen über 200 heute noch erhaltene Handschriften aus dem 9.-15.Jh. Ab dem 12. Jh. finden auch Senecas Naturales quaestiones eine respektable Verbreitung. Im Spätmittelalter erweitert sich der Gesichtskreis durch die lateinische Übersetzung griechischer Werke, die - zum Teil auf dem Umweg über das Arabische - Eingang in den abendländischen Kulturbereich fanden. Sie alle konnten aber die typische mittelalterliche Geisteshaltung nicht ändern, getreulich alte Erkenntnisse abzuschreiben, zu lehren und zu kommentieren, aber kaum je sie an den Phänomenen der Natur zu überprüfen oder gar durch eigene Forschung zu erweitern.
Die entscheidenden Impulse zur Neuorientierung der Wissenschaft wurden erst dadurch gegeben, daß zum einen im Vorfeld der Eroberung Byzanz (1453) Hunderte von griechischen Handschriften in den Westen gerettet wurden und man zum anderen auch hier selbst mit ganz neuem Eifer in den Klosterbibliotheken nach verschollenen Autoren zu suchen begann. Dem neuerwachenden Interesse an der antiken Literatur kam nach der Mitte des 15.Jh. die umwälzende technische Neuerfindung des Buchdrucks sehr zustatten, taten sich doch nun ungeahnte Möglichkeiten der Verbreitung wiedergewonnener Texte auf.
Somit standen Ende des 15./Anfang des 16.Jhs. alle einschlägigen Werke der antiken Wissenschaften, soweit sie überhaupt erhalten geblieben waren, einem größeren Leserkreis zur Verfügung und boten vielfältige Anstöße zu neuen Forschungen. So hatte sich Kolumbus für seine Entdeckerfahrten nach Amerika nachweislich von antiken Erwägungen bei Aristoteles und Strabon über die Möglichkeit, von Spanien auf dem Westweg nach Indien zu gelangen, inspirieren lassen.
Ähnlich wie bei der Erweiterung des Erdbildes gingen wenige Jahrzehnte nach Kolumbus auch bei der Konzipierung des neuen Weltbildes entscheidende Impulse von der Antike aus. 1543 erschien das Epochemachende Werk des Kopernikus De revolutionibus orbium caelestium, welches das immer noch gültige ptolemäische Weltbild überwand und das heliozentrische Weltbild begründete. Dabei ist wenig bekannt, daß Kopernikus in seiner bereits 1530 abgefaßten Praefatio an Papst Paul III. sich ausdrücklich auf Aristarch von Samos, den antiken Begründer des heliozentrischen Weltbildes, beruft und die einschlägigen Stellen bei Plutarch u.a. zitiert; die Hinweise des Kopernikus sind dann leider in der erst später erfolgten Drucklegung einer Kürzung zum Opfer gefallen.
Auch in der Biologie (Pflanzen- und Tierkunde) sowie in der Physik (Atomlehre aufgegriffen von Leonardo da Vinci und später von Galilei) ist antikes Wissen verwertet worden.
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