Es lag in der Natur der Sache, daß sich aus der ganzheitlichen Naturbetrachtung, um die sich seit jeher die Philosophie bemühte und die immer ihr Anliegen blieb, allmählich einzelne Fachwissenschaften herauslösten und sich verselbständigten. Damit beginnt sich die Kluft zu öffnen zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft, die bis jetzt eine unzertrennliche Einheit bildeten. Im 5.Jh. noch vereinzelt, im 4. und 3. Jh. auf breiter Front setzt jener Prozeß der Spezialisierung ein, dem die Naturwissenschaften ihre erstaunlichen Fortschritte verdanken, der aber auch die Gefahr in sich birgt, den Blick für das Ganze zu rauben.
Die Bildung der Fachwissenschaften begünstigte in hohem Maße die äußeren Bedingungen der hellenistischen Zeit. Die Erweiterung des Gesichtskreises durch die weitgestreckten Grenzen des Alexanderreiches, die Überwindung traditioneller Bindungen und Öffnung gegenüber fremden Einflüssen, die Entstehung neuer Kulturzentren in den nachfolgenden Diadochenstaaten waren besonders geeignet, das wissenschaftliche Denken zu fördern. Das bedeutendste Kulturzentrum wurde unter Ptolemaios I. (305 - 283) Alexandria, der die berühmte Bibliothek gründete - sie soll etwa 400 000 Buchrollen umfaßt haben -, die unter Ptolemaios II. (283 - 247) eine einzigartige Hochblüte erlebte. Die Institution des Museions in Alexandria war - weit mehr als eine bloße Bibliothek - eine eigentliche Lebensgemeinschaft von Wissenschaftlern, die einen ständigen Gedankenaustausch ermöglichte.
Kriterien, inwiefern sich ein Sachgebiet als selbständige Fachwissenschaft emanzipiert, sind etwa, daß eine Fachbezeichnung für die betreffende Disziplin geschaffen wird, daß Gelehrte sich mehr oder weniger professionell mit dem Sachgebiet befassen, daß der Wissensstoff eine gewisse Gliederung und Systematisierung erfährt und ein Schrifttum entsteht, daß sich eine über längere Zeit sich fortsetzende Schultradition bildet, in welcher spätere Generationen die Erkenntnisse früherer verwerten und erweitern können.
Die älteste Fachwissenschaft, die sich herausgebildet hat und die ein reiches Schrifttum besitzt, ist die Astronomie; nicht zufällig konnte sie doch wohl auf babylonische Kenntnisse zurückgreifen. Die Fachbezeichnung (1) astronomia bzw. astronomikos - vorerst noch gleichbedeutend mit astrologia bzw. astrologos - erscheint schon bei den Vorsokratikern und ist im 5. Jh. ein geläufiger Begriff.
Die (2) mathematike - zunächst allgemein für ein wissenschaftliches Stoffgebiet gebraucht - wird als Fachbezeichnung für Mathematik beim Pythagoreer Archytas (Anf. 4.Jh.), bei Plato und Aristoteles geläufig, reicht der Sache nach jedoch in vorsokratische Zeit zurück.
Etwas später scheint die Fachbezeichnung (3) geographia aufgekommen zu sein, die bei Strabon (1.Jh v. Chr.) als geläufiger Ausdruck erscheint.
Fachbezeichnungen wie (4) biologia/biologos oder gar zoologia/zoologos sind dagegen in der Antike nicht belegt, obwohl ein ganz beachtliches Schrifttum erhalten ist.
Weit verbreitet ist dagegen der Ausdruck (5) physikos, der aber ganz allgemein den Naturwissenschaftler oder Naturphilosophen bezeichnet und nicht unserem Physiker entspricht. Aber eine selbständige Fachdisziplin, die mit unserer heutigen Physik verglichen werden könnte, existierte in der Antike nicht, wenngleich durchaus einzelne physikalische Fragen behandelt wurden.
Ganz spät, erst im 4.Jh. nach Christus, erscheint in den alchemistischen Schriften der Begriff (6) chymeia/chemeia, wobei diese Fachrichtung zwar ansehnliches eigenes Schrifttum produziert hat, aber nie das Niveau einer eigentlichen Wissenschaft erreichte.
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