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geschichte artikel (Interpretation und charakterisierung)

Die bevÖlkerung der udssr



1.1. Daten und Grundlagen 1.1.1. Die Sowjetgesellschaft

"...ein Tripledeckersandwich (...), dessen oberste Schicht sich aus der regierenden Bürokratie, die mittlere aus dem Mittelstand oder der Klasse der Berufsspezialisten und die unterste und größte Schicht aus Arbeitern, Bauern und kleinen Angestellten etc. zusammensetzt."

Im Jahr 1990 lebten in der UdSSR auf einer Fläche 22,4 Mill. km2 292 Millionen Menschen aus 138 verschiedenen ethnischen Gruppen. Offizielle Statistiken teilen die "Erwerbspersonen" dem produzierenden Gewerbe (42%), der Landwirtschaft (18%) und dem Dienstleistungssektor (40%) zu. Nach den Analysen Amalriks nimmt die unterste Schicht der Sowjetgesellschaft also 60% ein, während sich die beiden oberen auf die restlichen 40% verteilen. In der Realität werden die Mehrheitsverhältnisse noch weiter in Richtung Unterschicht verschoben gewesen sein, da davon ausgegangen werden kann, dass dort die Anzahl der Kinder, die in den obengenannten Statistiken nicht erfasst sind, ein Vielfaches von der der beiden anderen Schichten betrug. Im folgenden soll untersucht werden, inwiefern die einzelnen Schichten dieser Gesellschaft die Reform der Sowjetunion beeinflussten.

1.1.2. Die Demokratische Bewegung als Sammlungsbewegung reformerischer Kräfte

"Obwohl es einen sozialen Mittelstand gibt, der die Grundsätze der persönlichen Freiheit, der Rechtsordnung und einer demokratischen Verwaltung nicht nur sehr wohl verstehen könnte, sondern sie praktisch auch brauchte, und der auch bereits die meisten Anhänger der Demokratischen Bewegung stellt, ist die große Masse so durchschnittlich, (...) verbeamtet und (...) passiv, dass ein Erfolg der Demokratischen Bewegung, die sich auf diese soziale Schicht stützt, äußerst problematisch erscheint."


Der Begriff "Demokratische Bewegung" scheint eine Bezeichnung Amalriks zu sein - in der Literatur taucht er nicht auf. Gemeint ist die innersowjetische Opposition der 60er und 70er Jahre. Ihre Ursprünge lagen in einer Protestbewegung von Künstlern gegen die staatlichen Repressionen und Vorgaben der poststalininistischen Ära unter Führern wie Chruschtschow und später Breschnew. Im Jahr 1968 politisierten ihre Anhänger die Ziele der Bewegung. Politischer Hintergrund waren die Prozesse gegen Sinjawskij und Daniel, die die Bevölkerung einschüchtern sollten, jedoch das Gegenteil bewirkten. "Zum erstenmal in der sowjetischen Geschichte kam es zu einer Welle von Protestbriefen, die (...) ganze Gruppen unterzeichneten. (...) Die innersowjetische Opposition war zum ersten Mal in die Öffentlichkeit getreten". In der Folge schlossen sich der Bewegung "Vertreter der technischen Intelligenz" , Naturwissenschaftler und liberale Intellektuelle an, die jedoch teilweise sehr verschiedene Ansichten hatten. So gab es Vertreter liberal-demokratischer (Andrej Sacharow), ebenso wie solche religiöser (Lew Wenzow), nationalistischer (Alexander Solschenizyn) und auch marxistischer (Roy Medwedjew) Vorstellungen. Amalriks Analyse der sowjetischen Opposition ist noch weitaus differenzierter. Dies hat jedoch für die weiteren Analysen keine große Bedeutung. Wichtig ist, dass der Autor, selbst aktiver Oppositioneller und Schriftsteller im "Samisdat", dem illegalen "Selbstverlag" der künstlerischen Opposition, die Rolle der Demokratischen Bewegung eher skeptisch sieht, obwohl sie seiner Meinung nach die einzige Basis für den Wandel zu einer demokratischen Sowjetunion darstellt. Grund für seine Skepsis ist einerseits ein fehlendes demokratisches Verständnis innerhalb des Volkes und die Erstarrung und Bürokratisierung der mittleren Schicht. Sieben Jahre nach der Herausgabe seines Essays äußert er sich etwas optimistischer. Der Einfluss der Bewegung sei weiterhin sehr gering und aktive Mitglieder gebe es immer noch "nur ein paar Dutzend". "Hilfe leisten aber einige hundert, passive Unterstützung geben einige tausend, und Millionen Leute teilen schweigend (unsere) Meinung." Trotzdem vertritt er weiterhin die Meinung, dass es "in Russland nur nach schweren Krisen zu Reformen (komme)" .


1.2. Die Prognosen
1.2.1. Die Unterschicht

"...eine destruktive Bewegung, die sich in verderblichen, gewaltsamen und unverantwortlichen Handlungen äußern wird, sobald diese Schichten mit relativer Straflosigkeit rechnen können."


Zur Unterschicht Amalriks gehörten hauptsächlich die Bauern und Arbeiter. Sie stellten bereits im zaristischen Russland und - wie oben ausgeführt - auch in der Sowjetunion die zahlenmäßig überlegenste Bevölkerungsschicht. Zum Aufbau einer Demokratie im Sinne von "Volksherrschaft" war und ist Rückhalt gerade in dieser Schicht notwendig. Amalrik, der sich selbst als \"am meisten sowjetischer Mensch\" bezeichnete, der auf eine Demokratisierung der UdSSR auf Grundlage des Rätemodells hoffte , hält das angesichts der "Verständnislosigkeit" der untersten Schichten gegenüber aufklärerischen Idealen wie Persönlichkeit und Freiheit ("für die Mehrheit gleichbedeutend mit ,Unordnung', mit der Möglichkeit, ungestraft beliebige gesellschaftsschädigende und gefährliche Taten auszuführen") für unmöglich. Positive Vorstellungen habe das Volk nur von der "Idee der ,starken Herrschaft', die recht hat, weil sie stark ist" und von Gerechtigkeit, "die in der Praxis in den Wunsch (umschlägt), daß es keinem besser gehen soll als mir`" . Innerhalb dieser wert- und ideallosen Schicht bestehe zwar durchaus ein distanziertes, fast feindliches Verhältnis zu Staat und Regime, dies allerdings nur in Form "passiver Unzufriedenheit" , "die nicht gegen das Regime als ganzes gerichtet (ist), (...) sondern gegen einzelne Bereiche." Letzteres ist in Literatur und Wissenschaft häufig dokumentiert. Der Satz "Russland ist groß und der Zar ist weit" ist zu einem geflügelten Wort geworden. In einem Staat von der Größe der ehemaligen Sowjetunion oder des zaristischen Russlands wurden "Hauptstadt" und "Regierung" für den einzelnen Bürger zu abstrakten Begriffen - präsent nur durch die Medien. Im Alltag schwanden politische und ideologische Theorien angesichts allzu naher Probleme zur Bedeutungslosigkeit. Was das Volk erstrebte, war das eigene Wohlergehen und somit eine funktionierende Wirtschaft. Der seinerzeit relativ hohe Lebensstandard, so Amalrik, "hebt diese Erregung (i.e. die passive Unzufriedenheit) nicht auf, sondern neutralisiert sie irgendwie". Wirtschaftlicher Stillstand oder Rückschritt hätte das Aufflammen von revolutionären, zerstörerischen Volksaufständen zur Folge. Durch dieses ständig immanente destruktive Potential erhält das Volk des sowjetischen Staates für Amalrik seine Bedeutung. Als bestätigendes Beispiel dieser Hypothese führt der Autor den Hungeraufruhr in Nowotscherkassk 1962 an.


1.2.2. Die Mittelklasse

"...so durchschnittlich, in ihrem Denken so verbeamtet und (...) so passiv, dass mir ein Erfolg der Demokratischen Bewegung, die sich auf diese soziale Schicht stützt, äußerst problematisch erscheint"


Amalrik nannte sie die "Klasse der Berufsspezialisten". Zu ihr zählte er Wissenschaftler, Intellektuelle, Künstler. Sie ist seiner Meinung nach die Schicht, die wegen ihres kulturellen Niveaus und der "Fähigkeit zur Beurteilung der eigenen Situation und der der Gesellschaft" Ausgangspunkt von einer Demokratisierung der UdSSR sein könnte, da sie sich der Notwendigkeit von Reformen bewusst sei. Sie betreibe jedoch "eine Art Kult der eigenen Machtlosigkeit im Vergleich zur Stärke des Regimes" , der zu Passivität und willenloser Unterordnung führe. Die "negative Auslese der stalinistischen Säuberungen der 30er Jahre habe zusätzlich "allen Schichten der Gesellschaft den Stempel grauer Mittelmäßigkeit (aufgedrückt)" und "alle unabhängigen und besonders aktiven Elemente" planmäßig entfernt.

1.2.3. Die Oberschicht
Die oberste Schicht Amalriks sowjetischen "Tripledeckersandwiches" bildete die "regierende Bürokratie". Da sie das Regime verkörperte, das im folgenden noch ausführlich analysiert wird, soll sie an dieser Stelle nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Zahlenmäßig war sie den anderen beiden Schichten deutlich unterlegen.


1.3. Die Realität
1.3.1. Volksunruhen und ihre Bedeutung für den sowjetischen Niedergang
Bedingt durch die Gorbatschowschen Reformen und besonders durch "Glasnost" - die Transparierung von Politik und Gesellschaft, fand in den 80er Jahren eine gewisse Politisierung des sowjetischen Volkes statt. Wie Amalrik vorausgesagt hatte, führte diese Tatsache allein jedoch noch nicht zu Reformbewegungen innerhalb des Volkes. Erst die wirtschaftliche Krise und die Unterdrückung daraus resultierender nationaler Bewegungen im Baltikum führten zu Streiks und Massendemonstrationen. Bezeichnend dafür war der Bergarbeiterstreik im Juli 1989. Auslöser waren die katastrophalen sozialen Zustände, die Wolfgang Leonhard in seinem Buch "Die Reform entläßt ihre Väter" ausführlich beschreibt. Die Forderungen richteten sich gegen das autoritäre Management und die unwirtschaftliche Produktionsweise, wurden später jedoch politisiert und beinhalteten schließlich Ziele wie die Zulassung freier Gewerkschaften und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Nach Konzessionen der Regierung wurde der Streik abgebrochen, Gorbatschow sprach jedoch von "der größten Prüfung in den vier Jahren der Perestrojka".


1.3.2. Die Bedeutung demokratischer Bewegungen
Wie bereits erwähnt hatten "Glasnost" und der wirtschaftliche Niedergang eine politisierende Wirkung auf das Volk. Gorbatschows Ziel - die Erhaltung des Machtmonopols der KPdSU -, das sich beispielsweise in der bis 1990 beschränkten Versammlungsfreiheit und der Erhaltung der verfassungsrechtlich verankerten Monopolstellung der Partei zeigte, schuf eine immer größere Opposition, die sich in Interessengruppen, Bewegungen und Parteien manifestierte. Im Gegensatz zu der fast elitären Demokratischen Bewegung der 70er Jahre handelte es sich in den Demokratiebewegungen Ende der 80er Jahre um "spontane Massenerscheinungen" wie bei dem erwähnten Streik oder bei den Massendemonstrationen 1990 anlässlich der Wahlen zum Volksdeputiertenkongress. In wirklichen Parteien organisierten sich die einzelnen Bewegungen allerdings erst Anfang der 90er Jahre - und auch dann blieb die Mitgliederzahl wegen der schlechten Erfahrungen der Sowjetbürger mit den organisierten Institutionen der UdSSR verhältnismäßig gering. Bei den Wahlen traten die einzelnen Parteien in Blöcken auf (...), um den gemeinsamen Kandidaten die Chancen zu erhöhen.

Zusammenfassung

Im Prinzip hatte Amalrik also recht, wenn er den unteren Schichten Protestbewegungen nur als Folge wirtschaftlicher Schwächung zutraut. In dem oben beschriebenen Streik zeigt sich jedoch, dass innerhalb des Volkes durchaus Verständnis gegenüber Demokratie und Politik vorhanden war. Unmittelbar systemauflösend war dieses Verständnis - darin stimmen Realität und Prognose überein - jedoch nicht. Insgesamt kann man sagen, dass eine Demokratisierung der Bevölkerung in größerem Maße eintraf als von Amalrik vorhergesagt. Dass sie dennoch keine unmittelbar umstürzendende Bedeutung hatte, lag erstens an dem Misstrauen in weiten Teilen der Bevölkerung gegen Parteien im allgemeinen und andererseits in der noch vorhandenen Furcht vor dem Regime.

 
 

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