In seinem Gedicht will Solon dem Hörer drei Grundgedanken vermitteln:
1. Solon erkennt, daß es einen von göttlicher Einwirkung freien irdischen Kausalzusammenhang gibt zwischen menschlichem Fehlverhalten und zerstörerischen Entwicklungen in der Gemeinde, daß es aber ebenso einen Weg aus dieser Krise heraus gibt. Dieser Weg muß von den Mitgliedern der Gemeinde selbst bestimmt und gestaltet werden, wollen sie nicht länger gegen den Willen der Götter ihre Stadt zugrunde richten. Gemäß dem Zusammenwirken vieler Faktoren, die die Polisordnung ausmachen, sind Solons Reformen auch dementsprechend breit angelegt: Rechtspflege und Gesetzgebung, soziale und wirtschaftliche Maßnahmen, politische Institutionalisierungen, Außenpolitik, kulturelle Integration etc. Vieles davon hatte auch in der Folgezeit noch Bestand, besonders die von Solon angedeutete Grundvorstellung, daß man die Gemeinde als ein einheitliches Ganzes gegenüber der individuellen Existenz jedes einzelnen Bürgers denken müsse. Das Ganze der Stadt gilt als gesonderter Handlungsraum, in dem die Regeln für das Handeln des einzelnen - z.B. das Streben nach Reichtum - nicht angewendet werden können. Damit ist der Gegensetz von Oikos und Polis, die dabei ein höheres Recht genießt, erfaßt. Weiterhin gilt die Bürgerschaft als handelndes Subjekt in der Gemeinde. Solon hat daher zum ersten Mal versucht, den Bürgerstatus rechtlich zu umschreiben, und hat damit eine Entwicklung in Gang gebracht, die bis zu Kleisthenes und der endgültigen Strukturierung der Bürgerschaft führte. Zu den weiteren Grundbedingungen des poltischen Raumes zählt für Solon schließlich die Freiheit von Knechtschaft jeglicher Art. Solon hat also mit der sehr umfassend gedachten Gestaltungsmacht über die Polisordnung, mit der postulierten Ausgrenzung eines politischen Raumes und mit der Entdeckung der Bürgerschaft als dessen zentraler Größe entscheidende Bedingungen der athenischen Polis zum ersten Mal erkannt und in das Bewußtsein gerückt. Die historische Entwicklung des folgenden Jahrhunderts war von ihrer allmählichen Verwirklichung geprägt.
2. Laut Solon gehört zur inneren Gesetzmäßigkeit der Poliskrise, daß sich dieser kein Bürger entziehen konnte und unmittelbar betroffen war, was sich aus der Mitschuld aller an diesem Zustand herleitet. Die Krise ist also eine Frage der inneren Einstellung der Bürger - wohl ein Schock für Solons Hörer -, allen mangelte es an einer realistischen Einschätzung ihres eigenen Verhaltens im Zusammenhang mit dem anderer. Dabei sind die Hauptfehler die ausschließliche Konzentration auf den eigenen Oikos und maßlose Gier nach Reichtum aufgrund mangelnder Selbstbeherrschung. Die neue Bürgermoral muß daher den Trieb zu zügeln versuchen und das Ideal der Vernunft und Mäßigung suchen, verbunden mit einem hohen Verantwortungsbewußtsein für das eigene Gemeinwesen. Solon fordert damit eine veritable Revolution der geltenden Werte hin zu einer neuen politischen Ethik. Diese hat sich in den folgenden eineinhalb Jahrhunderten tief in den Athenern verwurzelt und sie zu einem überaus politischen Volk werden lassen.
3. Dieses rationell-verantwortliche Handeln steht aber im Gegensatz zu Handlungsweisen, die durch Aktivität des \"Herzens\" angeregt werden, d.h. leidenschaftliches und gefühlsmäßiges Agieren. Verständiges und vernunftgeleitetes Handeln muß diese Regungen daher unter Kontrolle zu bringen und sie der Vernuft dienbar zu machen wissen. Deshalb erklärt Solon auch, daß seine rationelle Lehre aus seinem \"Herzen\" komme, um zu verdeutlichen, daß dieses im Einklang mit der Vernunft stehe und handle, was auch bei jedem anderen der Fall sein müsse, soll der Wandel der Moral nicht behindert werden. Verstand und Emotion müssen also an einer Revolution der Werte gleichermaßen beteiligt sein. Dies ist auf zwei Wegen zu erreichen: Der eine besteht in der Anbindung der politischen Ethik an die traditionellen religiösen Kräfte, indem eine Wendung zum Besseren für die Stadt auf dem Fundament eines festen religiösen Glaubens fußen muß. Athena bildete dabei für Solon einen entscheidenden Bezugspunkt, in dem sich das neue Polisbewußtsein der Athener konkret darstellen konnte, womit er eine Entwicklung in Gang setzte, durch die im Laufe der nächsten zweihundert Jahre Mythos und Kult der meisten Götter zur Polisreligion geworden sind. Ein anderer Weg zu den Herzen der Büger bot sich Solon schließlich durch seine dichterische Größe. Seine Dichtung ist keine persönliche Attitüde, sondern vielmehr ein integraler Bestandteil seiner Rolle als Aisymnet. Sie war ganz auf Darstellung und Effekt angelegt und bediente sich vielfältiger dramatisierender Mittel in der Öffentlichkeit, mit der Absicht, politisch wirken und aufklären zu wollen. Seine Art der Dichtung als das den Bedürfnissen der Bürgerschaft angemessene, weil Betroffenheit auslösende und emotionale Identifikation erzeugende Kommunikationsmedium, bildet eine ungebrochene Kontinuitätslinie bis zum Drama des 5. Jahrhunderts.
Zusammenfassung:
Nach Solon bestimmt die Gesamtbürgerschaft erfolgreich über die Geschicke ihres Gemeinwesens, wenn sie den Geboten einer politischen Ethik folgt, die auf das Wohlergehen der Bürgerschaft abzielt. Diese Bürgermoral beruht auf einer Umorientierung bestehender und in der Welt des Oikos weiter gültiger Wertvorstellungen und muß sich gegen diese durchsetzen. Deshalb müssen sich die Bürger über bestimmte Kommunikationsmedien immer wieder der Grundlagen ihres Bürgerseins vergegenwärtigen.
Mit seinen politischen Erkenntnissen hat Solon die Eckpfeiler des Bürgerstaates aufgerichtet und wesentliche Punkte der athenischen Geschichte des 6. und 5. Jahrhunderts in ihren Ursprüngen begründet, womit sich die archaische und klassische Zeit Athens unter dieser Perspektive in viel höherem Maße, als dies bisher gedacht wurde, zu einer Einheit zusammenfinden. Daher kann man Solons Eunomie-Gedicht als die Geburtsstunde des Bügerstaates bezeichnen.
|