Ein Auslöser waren die Unabhängigkeitsbestrebungen der einzelnen Nationen. Unter Stalin wurden Grenzen willkürlich gezogen, die Menschen wurden aus ihrer Heimat ausgesiedelt und in weit abgelegene Teile des Landes deportiert. Es kam zu schweren Verstößen gegen die Rechte etlicher Völker. Diese hatten nicht das Recht auf die freie Wahl des Arbeitsplatzes (im Sinne des geographischen Ortes), durften folglich nicht in ihre Heimat zurück. Diese Unterdrückung eskalierte mit den Jahrzehnten zu einer Art brennendem Pulverfaß, welches nur darauf wartete zu explodieren. Als die Perestroika begann, spürten die Menschen, dass die instabile Regierung die politischen Zügel gelockert hatte und die Menschen außerdem auch aufforderte zu politischer Beteiligung, so dass die Bürger die Möglichkeit sahen und wahrnahmen nunmehr ihre nationale Souveränität einzufordern. Der liberale demokratische Kurs der Perestroika war, denke ich, gerade zu ein Startschuß für die folgenden Unruhen, welche vor der Ära Gorbatschow brutal mit Militärgewalt niedergeschlagen worden wären. Gorbatschow mußte aber besonders in Krisensituationen das Vorbild sein, was er von sich vorher behauptet hatte, auch um seine politische Glaubwürdigkeit zu behalten. Diese, im konservativen Kreisen als Schwäche bezeichnete Haltung, provozierte die Massen.
Ein erstes Alarmsignal waren die Zusammenstöße zwischen russischen und jakutischen Studenten im März 1986. Im Dezember kam es als Folge des Wechsels der Führung von Kasachstan zu Massenunruhen in Alma-Ata, bei denen sich die einzelnen Klans gegenseitig bekämpften. Die Zentralregierung in Moskau entschied (sinngemäß nach Gorbatschow), dass man einen Mann brauche, der keine engere Beziehung zu einem der Klans hatte. Man setzte Kolbin - einen Russen- in das Amt, was verständlicher weise vom kasachischen Volk als Zeichen des Mißtrauens und der Mißachtung gedeutet wurde. Es kam zu weiteren Massendemonstrationen. Gorbatschow schreibt, dass dies ein Fehler war, aber viel schlimmer noch, dass der Beschluß des Politbüros "diente weniger dem Ziel, die Ursachen der Vorfälle zu klären und Lehren daraus zu ziehen, sondern der Republik Kasachstan und damit auch anderen eine Lektion zu erteilen."
Im Februar entflammte in Lettland und Estland die Frage nach der Rehabilitierung und Rückkehr der Krimtataren auf die Halbinsel Krim. Drei Tage protestierten sie unter der Parole "Heimat oder Tod" vor der Kremlmauer.
Im August 1987 kam es zu ersten Anzeichen nationaler Unruhen in den baltischen Republiken. Eine Bewegung zur Wiedervereinigung von Karabach mit Armenien übte Druck auf Aserbaidschan aus; es kam zu heftigen Protesten auf beiden Seiten, später sogar zu einem offenen Krieg zwischen beiden Nationen.
Konflikte wie dieses drei Beispiele häuften sich, Nationalismus wurde als Leitmotiv einiger Republiken, kurz: es kam unter Gorbatschow zu einer immensen Entladung aufgestauter, ungelöster, ja sogar unbeachteter Probleme.
Die ersten Folgen waren die Übertragung von manchen Kompetenzen von der Unionsebene auf die Republiken, Programme für einen Übergang zur finanziellen Selbständigkeit wurden ausgearbeitet und ein Unionsgesetz über die freie Entfaltung und gleichberechtigte Verwendung aller Sprachen der Völker der UdSSR wurde erlassen. Ziel war es die Union zu stärken und die Basis für eine Umwandlung in eine echte Föderation zu schaffen.
Diese Ereignisse waren in Hinblick auf den Zerfall jedoch etwa die Ebbe vor der Flut. Die entscheidenden Krisen und Auslöser folgten in drei Städten: Tiflis, Baku und Wilna.
Zunächst kurz zu Tiflis in Georgien. Am 4. April 1989 kam es zu nichtgenemigten, mehrtägigen Demonstrationen mit Parolen wie "Unabhängigkeit für Georgien!" und "Nieder mit dem russischen Reich". Die Reaktion der Politiker war nach Gorbatschow: "Die lokalen Verantwortlichen betrachteten politische Methoden, etwa ein direktes Gespräch mit den Menschen, als Zeichen der Schwäche (das galt damals für viele Kader des "alten Schlags") und zogen es vor, Gewalt anzuwenden." Es wurden Truppen in die Stadt transportiert unter der Annahme, dass "schon die bloße Präsenz von Soldaten die Lage wieder normalisieren werde." Bei einem Einsatz der Armee starben jedoch 16 Menschen und viele andere wurden verletzt. Unklar ist, wer den Befehl zum Einsatz der Truppen gab. Nach Gorbatschow kam es zu Intrigen durch dieselben Leute die auch den Putschversuch 1991 planten. Zur Veranschaulichung der Atmosphäre eignet sich ein längeres Zitat von Regierungschef Nikolai Ryschkow während der Sitzung des Politbüros: "Wir waren während dieser Tage in Moskau, aber was wissen wir hier im Kreml? Ich bin der Chef der Regierung, und was wußte ich? Aus der Prawda habe ich erfahren, das in Tiflis Menschen umgekommen sind. Die ZK-Sekretäre wußten Bescheid. Aber wir in der Regierung, die Mitglieder des Politbüros, hatten keine Ahnung... Wir brauchen eine zeitgemäße und wahrheitsgemäße Information. Wo führt denn das hin. Der Befehlshabende in dem Gebiet dort handelt, und wir in Moskau wissen von nichts. Er verhaftet kurzerhand das ganze Politbüro Georgiens, und wir erfahren das wiederum aus der Zeitung. Wie sich herausstellt wußte nicht einmal M. S. Gorbatschow Bescheid. Was geht denn hier im Land vor? Wir setzen eine Armee ein, der Generalsekretär erfährt das erst am nächsten Tag. Wie stehen wir denn da vor der sowjetischen Gesellschaft, ja vor der ganzen Welt? Überhaupt ist es bei uns soweit, wohin man auch blickt, überall werden ohne Wissen des Politbüros Schritte unternommen. Das ist schlimmer, als wenn das Politbüro eine falsche Entscheidung trifft." Die Rede steht für sich und benötigt wohl keinen Kommentar, da dieser nicht schärfer sein könnte. Unwissenheit der aktuellen Lage mischte sich mit Unwissenheit der nationalen Eigenheiten der Krisengebiete und wurde unterstrichen durch oftmals falsche, realitätsferne Entscheidungen.
Der nächste Einsatz der Armee fand in Baku statt. Das geschah im Zusammenhang mit der Zuspitzung des armenisch-aserbaidschnischen Konflikts Anfang 1990, welcher in der Vertreibung der Armenier aus Baku gipfelte. Später wurden von den Menschen die Grenzanlagen auf einer Strecke von mehr als hundert Kilometern eingerissen. In der äußerst kritischen Lage wurde der Ausnahmezustand über Baku verhängt, Truppen marschierten in der Stadt in der Nacht vom 19. zum 20. Januar ein. Die Aufständischen der Aserbaidschanischen Volksfront eröffneten das Feuer auf die Truppen, so dass nach Gorbatschow die Truppen "gezwungen waren zurückzuschießen". In der Nacht starben 83 Menschen, darunter 14 Militärangehörige. Kritiker warfen der Zentralregierung vor den Ausnahmezustand viel zu spät ausgerufen zu haben, worauf Gorbatschow hinweist, das die Zentralregierung gemäß der Verfassung der UdSSR gar keine direkte Legitimation für eine Intervention hatte. Die Zentralregierung mischte sich erst dann ein, als sich zeigte, "dass die Organe der Republik handlungsunfähig waren". Andere kritisieren überhaupt die Ausrufung des Ausnahmezustandes.
Ein dritter entscheidender Auslöser für den Zerfall der SU waren die Ereignisse in Wilna, in Litauen. Im Januar 1991 lag etwa der Höhepunkt der Krise, hervorgerufen durch die Bewegung "Sajudis", die an die Macht kam. Anfangs betonte sie ihre Zugehörigkeit zur Perestroika, jedoch entwickelte sich die Bewegung allmählich zu einem "Sammelpunkt jener Kräfte, die sich für den Austritt aus der SU einsetzten." Die Regierung war unfähig die Separationsbestrebungen zu dämpfen, da diese an das patriotische Bewußtsein der Bevölkerung appellierten indem sie die faktisch nicht existierende Mehrheit und Vorherrschaft der Russen in dem Gebiet kritisierten. Ein anderer Grund war wirtschaftlicher Natur: Durch eine hohe Produktivität und gewisse Vorrechte der baltischen Republiken lag der Lebensstandart in Litauen über dem Durchschnitt der SU. Man erhoffte sich durch eine Abspaltung von der Union eine weitere Anhebung des Lebensniveaus, was auch in anderen Republiken der Fall war.
Interessant ist ein Zitat Gorbatschows bei der Politbürositzung 1989 - auch wenn dies chronologisch nicht in den Kontext passt- zur Situation der baltischen Republiken: "...Wir dürfen nicht davor zurückschrecken, mit einer ökonomischen Selbstständigkeit der Republiken zu experimentieren... Wir dürfen keine Angst davor haben, dass die Republiken ihre Souveränität unterschiedlich nutzen... Wir müssen überlegen, wie unsere Föderation umgestaltet werden kann, sonst zerfällt sie wirklich..."
Um die äußerst komplizierte Lage zu verdeutlichen und die Zwickmühle in der sich die Zentralregierung befand; sozusagen die selbst geschaufelte Grube verständlich zu machen folgt ein kurzer Rückblick über theoretische, allgemeine Beschlüsse die nun auf ihre Verwirklichung warteten:
Im September 1989 verabschiedete das ZK-Plenum die "Plattform der KPdSU" "Die Nationalitätenpolitik der Partei unter den aktuellen Bedingungen". Folgende Hauptaufgaben wurden darin formuliert:
- Umwandlung der Sowjetischen Föderation, die sich mit echten politischen und wirtschaftlichen Leben erfüllen soll
- Ausweitung der Rechte und Möglichkeiten aller Formen der nationalen Autonomie
- Rechtliche Gleichstellung aller Nationalitäten
- Schaffung der Bedingungen für die freie Entfaltung der nationalen Kulturen und Sprachen Bekräftigung der Garantie, dass niemand wegen seiner Nationalität benachteiligt werden darf
Dies wirkte sich in Gesetzen aus, wie dem Gesetz "Über die gemeinsamen Anfänge der lokalen Selbstverwaltung und der lokalen Wirtschaftsführung in der UdSSR", dem schon angesprochenen Gesetz "Über die Sprachen der Völker der UdSSR" und das Gesetz "Über die Abgrenzung der Befugnisse zwischen der Union der Sowjetrepubliken und den Subjekten der Föderation".
Gorbatschow betonte häufig, dass das "Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Abspaltung ein unveräußerliches Souveränitätsrecht sei, dass in der Verfassung der UdSSR verankert sei". Folglich wurde am 3. April 1990 ein Gesetz über den Austritt aus der Union verabschiedet. Allerdings hatte einen Tag vor der Verabschiedung die neue Führung Litauens demonstrativ das Land für unabhängig erklärt. Ende April folgten erste Signale, dass die Führung des Landes bereit sei mit der Zentralregierung in Dialog zu treten. "Litauen hätte keine Einwände dagegen, die Unabhängigkeitserklärung als eine Urkunde zu interpretieren, mit der sich der Staus der Republik als "assoziiertes Mitglied einer erneuerten Sowjetunion" vereinbaren ließe." Damit war ein Schritt zu Verhandlungen über die zukünftigen Beziehungen innerhalb der Union getan.
Ein herber Rückschlag folgte jedoch am 12. Juni 1990, an dem der Oberste Sowjet Rußlands eine Erklärung über die staatliche Unabhängigkeit der RSFSR verabschiedete. Dies war der Anstoß für eine regelrechte "Parade der Souveränitätserklärungen" und war der Auslöser für einem Prozeß, an dessen Ende der Zerfall der SU stand - nach Gorbatschow die "Hauptursache des Zerfalls." Es folgten ähnliche Erklärungen seitens der anderen Republiken, nicht nur von Unionsrepubliken, sondern auch von autonomen Republiken.
Etwa vor diesem Hintergrund kam es zu den provokanten Machtspielen zwischen Litauen und der Zentralregierung. Der Konflikt geriet zunehmend zu einem unkontrollierbaren Pulverfaß. Gorbatschow forderte die Republik auf die Verfassung der Union wieder in Kraft treten zu lassen, diese "reagierte nicht einmal darauf." Erste verfassungswidrige Maßnahmen forderten wiederum neue heraus, wodurch die Auseinandersetzung "auf das Gleis der direkten Konfrontation" geriet. Viele konservative Politiker der Union sahen eine schnelle und effiziente Lösung der Krise im Einsatz von Waffengewalt, also in den Methoden des totalitären Staates vor der Perestroika. Obwohl Gorbatschow entschieden gegen solche Mittel argumentierte, kam es zu einem seltsamen, auch im Buch unbegründeten Einsatz der Armee. "Sowjetische Militäreinheiten schossen vor dem Fernsehgebäude und dem Parlament auf Demonstranten" in Wilna. Dies ist der einzige Satz den Gorbatschow dem Skandal widmet, er ergänzt ihn lediglich durch die Rechtfertigung, dass bis heute nicht geklärt ist, wer den Befehl zum Einsatz der Truppe gab!
Die drei Krisen in Tiflis, Baku und Wilna trugen, verbunden mit der Souveränitätserklärung Rußlands maßgeblich zu einem grundlegenden Nachdenken über die multilateralen zukünftigen juristischen Beziehungen bei. Der Wunsch nach einem neuen Unionsvertrag gewann rasant an politischer Kraft, so dass man sich der Frage stellen mußte um nicht alles zu verlieren bzw. um zu retten, was noch zu retten war.
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