Imago, eine der wenigen analytischen Fachtermini, die Freud von C.G. Jung übernimmt, ist die Bezeichnung für die idealisierte Vorstellung einer im Kindesalter bevorzugten Person, zumeist ein Elternteil, die ein Leitbild für das künftige Verhalten abgibt.
Nathanaels Vaterimago ist also gespalten: der gute Vater, der sich für die Augen (die Sexualität) des Kindes einsetzt, und Coppelius, der böse Vater, der mit der Blendung (Kastration) droht. Dieselbe Spaltung wiederholt sich auch an späterer Stelle, wenn dem infantilen Väterpaar ein erwachsenes an die Seite gestellt wird: Professor Spalanzani, der Konstrukteur (\"Vater\") Olimpias, sowie der Wetterglashändler Coppola, der \"Blender\". \"Wie sie damals zusammen am geheimnisvollen Herd arbeiteten, so haben sie nun gemeinsam die Puppe Olimpia verfertigt.\" (Das Unheimliche, S. 244)
Fernab aller Liebeserklärungen hat das Verhältnis Nathanael - Olimpia also noch eine andere Komponente: Spalanzani ist \"Vater\" der Olimpia und wird auch zum (guten) Ersatzvater Nathanaels. Dem entspricht das \"böse\" Väterpaar Coppelius - Coppola. Zwar ist Olimpia eine Puppe, doch auch Nathanael werden, einer Marionette gleich, in der das neurotische Trauma einleitenden Hexenküchenszene von Coppelius probeweise die Arme und Beine abgeschraubt, um den menschlichen Mechanismus zu studieren. Das Abnehmen und Wiederansetzen der Extremitäten ist wiederum Kastrationssymbol, verweist aber auch auf innere Identitäten: Das Verhältnis Mechaniker - Puppe (Coppelius - Nathanael) wiederholt sich in Spalanzani - Olimpia. Es erfolgt also eine Gleichsetzung von Nathanael und Olimpia.
Aber die Analogie greift noch tiefer: \"Diese automatische Puppe kann nichts anderes sein als die Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit.\" (ebda.)
Auch Spalanzanis Hinweis nach Zerstörung der Puppe, Coppola habe dem Nathanael die Augen gestohlen, um sie der Olimpia einzusetzen, gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung: \"Olimpia ist sozusagen ein von Nathanael losgelöster Komplex, der ihm als Person entgegentritt.\" (ebda.)
Kehren wir noch einmal zurück zu Freuds Theorie über Kastrations- und Ödipuskomplex. Seine Überwindung ist, wie wir erfahren haben, beim männlichen Kinde abhängig von der positiven Identifikation mit dem Vater, der männlichen Rolle. Nathanael dagegen bildet eine feminine Strebung gegen den Vater aus, begleitet von homophilen Zügen. Er überwindet den Komplex nie ganz. Die Liebe zu Olimpia ist aufgrund der textlichen Analogien zwischen den beiden Figuren gleichsam eine Liebe zur eigenen Vorgeschichte, sie entlarvt sich selbst als durchweg narzißtisch und präödipal. Nur dadurch wird ihr zwanghaftes Moment, wird auch die plötzliche Entfremdung von seiner Verlobten Clara verständlich.
Mit der Puppe Olimpia wird Nathanael gleichsam sein urverdrängter und nie überwundener Vaterkomplex entgegengeschleudert. Die Folge ist eine neuerliche psychotische Reaktion, deren innere Logik darauf abzielt, Spalanzani als Vertreter der Vaterimago zu erwürgen. Auch während der sich anschließenden Genesungsphase am heimischen Herd und der Wiederannäherung an Clara wird das ödipale Trauma nicht aufgearbeitet. Der letzte Auftritt des Coppelius als libidohemmender Vater in der Turmszene treibt Nathanael notwendig in den Suizid: die Entleibung ist ein psychotischer Reflex, ist die endlich vollzogene Selbstkastration. Hoffmann verknüpft sie mit gezielt eingesetzter, sexuell motivierter Symbolik: Nathanaels mehrfach ausgestoßenes \"Feuerkreis, dreh dich\" dient nicht allein als motivische Reminiszenz der Hexenküchenepisode (Feuer - Augenausreißen - Kastration), die Flamme ist auch eines der in der Literatur am häufigsten verwendeten Phallussymbole. Selbst der Turm, den er mit Clara besteigt, von dem aus er in den Tod springt, und der \"seinen Riesenschatten auf den Markt wirft\", ist ein dazu passendes übergroßes Phallussymbol. Der Effekt des Unheimlichen im Sandmann, so konstatiert Freud, entsteht folglich durch das Rühren an infantilen Sexualkomplexen.
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