Die Situation in Galizien:
Armut war für die galizischen Juden die zentrale Erfahrungskategorie, und in ihren ständigen Bemühungen, in einer solchen materiellen Notlage ihre Existenz zu sichern, bildete sie auch deren- wenn auch unerwünschten- Lebensinhalt.
Mit dem Bekanntwerden neuer Mobilität und somit auch Wanderbewegungen durchkämmten nun zehn Tausende das Land und suchten so nach Überlebensmöglichkeiten.
Ein nicht geringer Teil der Bevölkerung Galiziens gehörte zur Gruppe der "gewöhnlichen" Bettler, die zuvor aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden waren und nun um die Brosamen der ihnen sozial Bessergestellten kämpfen mussten. Eltern, zum Beispiel, die ihre Tochter verheiraten wollten, jedoch nicht über die entsprechenden Mittel verfügten, um ihr die traditionell erforderliche Mitgift geben zu können, griffen ebenso wie jene darbenden Zeitgenossen, welche im eigenen Schtetl weder Arbeit noch ausreichende Mildtätigkeit zum Überleben fanden, zum Wanderbetteln, um sich dadurch das materiell Benötigte woanders zu erbitten. Die "Ferne" nahm allmählich etwas Verheißungsvolles an.
In dieser Weise wurde der "Mythos der Ferne" kreiert, der von den Erzählungen über Fortgezogene, die in der Fremde zu Reichtum oder ansehen gekommen waren, noch zusätzlich genährt wurde.
Dieser Mythos bildete die Gegenwelt zur eigenen sozialen Lage und wurde von der Hoffnung getragen, einen Ausweg aus dem alltäglichen Elend zu finden, er war ein "soziales Wolkenkuckucksheim". Diesem standen als weitere Wirklichkeitsalternativen die Bewegungen des Zionismus und Sozialismus gegenüber, die im Hier und Jetzt Veränderungen schaffen wollten, die keine Vorstellungen von geographischer Dimension über verbesserte Lebensverhältnisse hegten, sondern diesen einen zukünftigen Charakter gaben. Sowohl bei den genannten ideologischen Bewegungen wie auch beim "Mythos der Ferne" handelte es sich um "Ersatzwelten", die das Dasein ertragen helfen sollten.
Viele Emigranten packte aber auch nur das Fernweh.
Diese wanderten nicht so sehr aus sozialen Gründen aus, sondern vor allem weil sie der religiös-beengenden und jegliche Form der Selbstentfaltung erstickenden Schtetlatmosphäre entfliehen und mehr Abwechslung, Offenheit und kulturelle Vielfalt wollten.
Diese Sehnsucht nach einer neuen Lebensatmosphäre in der Ferne war nichts Neues und immer schon dort aufgetreten, wo Juden gegen die beengende Orthodoxie rebelliert hatten, doch bis weit ins 19.Jahrhundert war dieses Fernweh auf sehr wenige Menschen beschränkt gewesen, da es ja voraussetzte, dass man den Schtetlalltag geistig überwunden, zumindest Ahnung von einer anderen Lebens- und kulturellen Welt hatte.
Doch die Aufklärung führte nur bei wenigen Juden zu einer entsprechenden Horizonterweiterung. Es bedurfte erst der großen Veränderungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben, die den strengreligiösen Einfluss schwächten und die Juden mit anderen Lebenskonzepten vertraut machte, um in weiteren Kreisen die Sehnsucht nach der Ferne zu wecken.
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