So umsichtig Bismarck die Interessen des Reiches außenpolitisch zu vertreten
wußte, so wenig erfolgreich war seine Innenpolitik, in der er einen harten
Konfrontationskurs pflegte. Offensichtlich überblickte der preußische Junker
nicht, in welchem Ausmaß die Industrialisierung die deutsche Gesellschaft bereits
verändert und zu einem modernen Staat umgeformt hatte. Sowohl \"Kulturkampf\" als
auch \"Sozialistengesetze\" erwiesen sich als Fehlschläge. Mit seiner Haltung
verhinderte der Reichskanzler vor allem, daß die Arbeiterschaft in das Deutsche
Reich integriert wurde. Auch seine fortschrittliche Sozialgestzgebung konnte
daran nichts ändern.
1888 starb im Alter von 91 Jahren Kaiser Wilhelm I., der seinem Kanzler stets
frei Hand gelassen hatte. Die Regierung seines Sohnes, des schwer krebskranken
Friedrich III., dauerte nur drei Monate. Als Wilhelm II. (1859-1941) noch im
selben Jahr den Thron bestieg, begann eine neue Ära. Denn obwohl der junge Kaiser
den alten Bismarck bewunderte, wollte er doch aus dessen Schatten treten und
selbständig Politik betreiben. Durch ein sozialpolitiosches Reformprogramm
beabsichtigte er, die Arbeiterschaft der SPD zu entfremden und für die Monarchie
zu gewinnen. Aber die kaiserlichen Versöhnungsversuche hatten nicht den
gewünschten Effekt. Die Arbeiter entzogen ihrer Partei keineswegs die
Unterstüzung. Enttäuscht wandte sich Wilhelm II. wieder von den Arbeitern ab. Das
böse Wort von den \"vaterlosen Gesellen\" offenbarte seine wahre Haltung zu ihnen.
Die größeren Differenzen Wilhelms II. mit seinem Reichskanzler entzündeten sich
an außenpolitischen Fragen, was im März 1890 schließlich zum Rücktritt Bismarcks
führte. Der Kaiser lehnte die Verlängerung des Rückversicherungsvertrages mit
Rußland ab, weil er den Sinn der komplizierten Bündniskonstruktion nicht
durchschaute. Wie sein scheidender Kanzler vorhergesehen hatte, war die Folge
eine französisch-russische Militärkonvention (1892). Von nun an hatte das Reich
mit einem Zweifrontenkrieg zu rechnen.
\"Der Lotse geht von Bord\", so nannte es eine englische Karikatur, als Bismarck
nach insgesamt 28 Jahren aus der Regierung Preußen-Deutschlands schied. Der \"neue
Kurs\" des Kaisers war gekennzeichnet von häufig wechselnden Kanzlern und
spontanen, unüberlegten Entscheidungen. Wilhelm II. holte nicht Rat bei
erfahrenen Experten, sondern steuerte in einer wachsenden Überschätzung der
eigenen Kraft das Reich hin zur Weltmachtgeltung - und Weltkrieg.
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