2.1.1 Versorgungskrise
Im Frühjahr 1988 war zu erkennen, daß viele sowjetische Bürger von den praktischen Ergebnissen der Perestrojka-Politik zunehmend enttäuscht waren. Durch das Fehlen konkreter Veränderungen nach 3 Jahren Gorbatschowscher Politik sowie der großen Unterschiede zwischen offiziellen Versprechungen und der Realität des sowjetischen Alltags, der sich durch Versorgungsmängel und steigende Preise auszeichnete, wurde der Kurs der Perestrojka zunehmend unglaubwürdig. Maßnahmen, die die Wirtschaft verbessern sollten, wie z.B. die Kampagne gegen den Alkoholkonsum oder die Einführung der staatlichen Qualitätskontrolle führten zu keiner Verbesserung der Verhältnisse.
Bei der mangelnden Versorgung mit Konsumgütern, im Dienstleistungsbereich oder beim Wohnungsangebot erfuhren die sowjetischen Bürger am eigenen Leibe, daß keine Veränderungen eingetreten waren. Dieses führte zu einer zunehmenden Frustration und Mißstimmung in der Bevölkerung. Solche Stimmungen wurden durch Veröffentlichungen der Ergebnisse von Meinungsumfragen noch unterstrichen.
Sichtbar wurde auch, daß eine zunehmende Politisierung der Bevölkerung stattfand. Im Vordergrund stand dabei die Unzufriedenheit mit dem Arbeitsplatz und der Arbeitsatmosphäre sowie die Angst vor Arbeitslosigkeit. Im Versorgungsbereich waren das der Warenmangel und die Inflation. Außerdem bereiteten vielen Bürgern die Formen sozialer Differenzierung Sorge.
Eine Umfrage 1987 in 374 Betrieben ergab, daß über 60% der befragten Belegschaftsmitglieder nicht mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden waren. Die Gründe dafür
schienen in den niedrigen Löhnen und in der schlechten Arbeitsorganisation zu liegen. Zum anderen jedoch auch in den schlechten Lebensbedingungen: 20% der Belegschaftsmitglieder warteten auf eine Wohnung (in der Verhüttungsindustrie mehr als 30%) und ähnlich schlecht waren die Bedingungen bei den Kindergartenplätzen und anderen sozialen Einrichtungen.
Als undurchschaubar stellte sich das neu eingeführte Lohn- und Prämiensystem dar. Hier war die Vorgabe von Prämien in der Regel nicht von der Produktionsleistung abhängig. So erhielten 67% der Befragten eine Prämie, obwohl sie ihre Produktionsaufgabe nicht erfüllt hatten.
Veränderungen in den Betrieben hatte es bis 1987 nicht gegeben, weder im Verhalten der Kollektive noch in der Einstellung der Mitarbeiter zum Betrieb.
Während so einerseits verzerrte und entstellte Reformmaßnahmen bzw. ihr völliges Fehlen zu Frustration und Unzufriedenheit führte, war auch die Durchsetzung von Reformschritten Auslöser für Konflikte. Die Einführung der staatlichen Qualitätskontrolle und die dadurch verschärften Inspektionen führten oft zu Zurückweisungen der Erzeugnisse und in der Folge zu Lohnkürzungen. Dieses und die Möglichkeit der "Freisetzung" von Arbeitskräften von der Belegschaft wurde als Bedrohung angesehen. Dazu kamen Prognosen von Ökonomen, die von einer Freisetzung von 14-16 Millionen Beschäftigten bis zum Jahre 2000 sprachen.
Auch außerhalb der Betriebe setzten sich die Probleme und die Versorgungskrise fort. Zwischen 1986 und 1988 wuchsen die Geldeinkünfte der Bevölkerung um 16,7%, der Verkauf von Konsumgütern dagegen stieg nur um 13%. Dadurch kam es zu einem Nachfrageüberschuß, den der Handel nicht befriedigen konnte. Die sowjetische Führung
griff daraufhin zu dem Aushilfsmittel der Rationierung. Im Zuge dieser Entwicklung kam es zu einer Inflation nicht unter 4%.
Die Ursachen für dieses Mißverhältnis von Kaufkraft und Konsumangebot muß man in der sowjetischen Geschichte suchen. Seit dem Ende der zwanziger Jahre hatte die Führung über Jahrzehnte hinweg Rüstung und Produktionsgütererzeugung favorisiert und die Konsumgüterproduktion vernachlässigt.
Das Defizit von Lebensmitteln und die inflationäre Preisentwicklung riefen in der Bevölkerung wieder Unzufriedenheit und Sorge hervor. Sogar 70% der Personen aus vergleichsweise privilegierten Gruppen gaben bei Befragungen an, daß sie mit materiellen Problemen zu kämpfen hätten.
Also läßt sich zusammenfassend sagen, daß in weiten Bevölkerungskreisen der Eindruck vorherrschte, daß die seit 1985 Schritt für Schritt konzeptionell fortentwickelte Politik der Perestrojka bisher kaum fühlbare materielle Ergebnisse erbracht hatte.
2.1.2 Die XIX. Parteikonferenz (Juni 1988)
Als Reaktion auf diese nicht vorhandenen Ergebnisse wurde eine politische Wende von Teilen der Partei- und Sowjetführung angestrebt, die auf der XIX. Parteikonferenz durchgesetzt werden sollte. Als Vorbereitung für diese Wende suchten Gorbatschow-Administratoren schon im Vorfeld ein günstiges Klima für Veränderungen zu schaffen. Dazu dienten wohl die Veröffentlichungen von Meinungsumfragen, die die Situation alles andere als positiv aussehen ließen. Der Gesellschaft und der Partei sollte ein ungeschminktes Bild der Lage vermittelt werden, um so die Notwendigkeit zu tiefgreifenden Änderungen zu verdeutlichen und Unterstützung zu mobilisieren. "In seinem Bericht vor der Konferenz skizzierte der Generalsekretär der KPDSU Gorbatschow die Reform des politischen Systems, die in den nächsten Jahren Schritt für Schritt verwirklicht werden sollte. Diese
politische Reform mußte aber auf dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Gesundung stattfinden." Eine Durchsetzung der radikalen Reform des ökonomischen Mechanismus und der Wende der Wirtschaftspolitik maß Gorbatschow deshalb große Dringlichkeit zu. Das Eingeständnis, daß sich die sowjetische Volkswirtschaft in einer schweren Krise befindet, war der Ausgangspunkt Gorbatschows Argumentation. Zur Verbesserung dieser Situation wollte er auch den Rüstungssektor in die Pflicht nehmen, der seinen Beitrag bei der Erzeugung und Lieferung von Konsumgütern entschieden vergrößern sollte. Im Mittelpunkt der Ausführungen zur Wirtschaftsentwicklung stand der desolate Zustand der Staatsfinanzen und die Versorgungskrise. Es sollte eine sogenannte "soziale Reorientierung der Ökonomie" stattfinden, also eine Neuverteilung der Ressourcen, die den Rüstungssektor mit einzubeziehen habe. Eine Wende müßte es ebenfalls in der Außenpolitik geben. Die negativen Folgen für die soziale und ökonomische Entwicklung des Landes, die der Rüstungswettlauf mit sich gebracht hatte, müsse durch eine realistischere Außenpolitik beseitigt werden.
Diese "Ökonomisierung der Außenpolitik" beinhaltet dabei die Beschränkung der militärischen und Rüstungsaktivitäten. Sicherheit sollte nun im Rahmen einer stärker defensiv orientierten Struktur und mit geringeren Mitteln gesichert werden. Die Konferenz gab hier den politischen Rahmen vor, der im Laufe des Jahres 1989 mit Truppenabbau und Kürzung der Rüstungsausgaben dann praktische gefüllt wurde.
2.1.3 Staatshaushaltdefizit
Im Herbst 1988 legten Finanzministerium und Staatsplankomitee den Jahresplan und das Staatsbudget für 1989 vor.
Dabei wurde die Einschätzung der Wirtschaftslage, wie sie bereits bei der XIX. Parteikonferenz gezeigt wurde, noch einmal unterstrichen. Gorbatschow hatte ja bereits darauf hingewiesen, daß die Staatsausgaben die Einnahmen seit längerer Zeit überstiegen hatten. Im Oktober nannte Finanzminister B. J. Gostev konkrete Zahlen.
Abb. 2-1: Staatshaushalt UdSSR 1989
in Mrd.Rbl. in Prozent
1. Einnahmen
Insgesamt 458,4 100,0
a. aus der Wirtschaft 355,6 77,6
darunter
- aus Gewinnen 121,2 26,4
- Umsatzsteuer 104,1 22,7
- aus der Außenwirtschaft 60,0 13,1
- im Rahmen der sozialen Sicherung 31,4 6,8
b. aus Steuern und anderen Abgaben
aus der Bevölkerung 39,4 8,6
c. aus Staatskrediten 63,4 13,8
2. Ausgaben
Insgesamt 494,7 100,0
a. für Sozial-kulturelle Maßnahmen 163,5 33,1
darunter
- für Wissenschaft und Forschung 21,5 4,3
b. für Budgetsubventionen für Lebens-
mittel und andere soziale Belange 103,0 20,8
c. für zentrale Aufgaben der
Zweige der Volkswirtschaft 172,7 34,9
d. für die Außenwirtschaft 28,6 5,8
e. für Verteidigung 20,2 4,1
f. für die Staatsverwaltung 2,9 0,6
g. Finanzreserven 3,7 0,7
3. Differenz zwischen
Einnahmen und Ausgaben 36,3
Quelle: Hans-Henning Schröder, "Versorgungskrise, Rüstungsabbau und Konversion in der UdSSR", Heft I, in Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 56-1989, Seite2 6
Dieses entspricht jedoch nicht ganz der Wahrheit. Gostev setzte sowohl die Staatskredite als auch die Ausgaben für die Verteidigung zu niedrig an.
Die tatsächliche Höhe des im Plan vorgesehenen Defizits betrug anderen Angaben zufolge 100 Mrd. Rubel und das war auch die Zahl, die in der Presse am häufigsten genannte wurde.
Die sowjetische Finanzpolitik befand sich also in einer kritischen Situation, zu deren Beseitigung einschneidende Maßnahmen erforderlich waren. Der Führung wurde bewußt, welche Bedeutung eine gesunde Finanzpolitik für die Durchsetzung der Wirtschaftsreform hat und arbeitete ein Sanierungsprogramm aus, das den Geldumlauf stabilisieren und auf eine Steigerung der Einnahmen und Senkung der Ausgaben hinwirken sollte. In diesem Zusammenhang standen auch die Militärausgaben zu Diskussion, so daß es zur Rüstungslastdebatte kommt.
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