Die Umstrukturierung bzw. Umgruppierung der Rüstungsindustrie steht im Zentrum des Machtkampfes in Rußland, wird durch diesen beeinflußt und gelenkt. Es stehen sich im wesentlichen zwei Machtblöcke und Positionen gegenüber mit weitgehend äußerst konträren Interessen und Zielsetzungen - auf der einen Seite die Reformer, auf der anderen die Rüstungslobby bzw. die alten Eliten des Militärisch-Industriellen-Komplexes (MIK) .
Die Zentralregierung in Moskau befindet sich in diesem Konflikt in einer weitgehend passiven Mittelposition, unfähig den Umwandlungsprozeß zu lenken und vernünftige Rahmenbedingungen zu schaffen.
4.3.1 Die unterschiedlichen Zielsetzungen
Die wesentlichen Ziele der genannten Blöcke lassen sich folgendermaßen beschreiben und voneinander abgrenzen :
Reformer: Sie betrachten den Rüstungssektor als parasitär und hypertrophiert. Deshalb wollen sie eine weitgehende Entmilitarisierung sowie die Auflösung der bisherigen Machtstrukturen des MIK und der hierarchischen Lenkungsstrukturen der Unternehmen. Dies soll Druck auf die Unternehmensleitungen ausüben, marktgerechtes Verhalten zu
entwickeln. Außerdem treten die Reformer für massive Privatisierungen ein; sie sehen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Privatisierung und Konversion.
Rüstungslobby / MIK: Sie sehen die Rüstungsindustrie als Kern der russischen Wirtschaft. Zudem soll sie als einziger Hochtechnologiesektor eine Lokomotivfunktion für die gesamte Russische Industrie übernehmen. Waffenexporte sollen ausgeweitet werden.
Überblick:
Reformer: Staatliches Komitee zur Verwaltung des Staatsvermögens (Goskomimuscestvo) , städtische bzw. regionale Komitees für die Verwaltung des Staatsvermögens (KUGI) , Radikalreformer.
Oberste Priorität für Privatisierung
einschneidende Kürzungen bei den Rüstungsaufträgen
weitgehende Entmilitarisierung und Auflösung der Machtstrukturen
des MIK
Konversion.
Rüstungslobby / MIK: Staatskomitee für die Verteidigungsindustrie (Goskomoboronprom), Rüstungslobby, Verteidigungsministerium.
Rüstungsindustrie als Kern der russischen Wirtschaft und Lokomotive der Wiederbelebung
Erhalt der industriellen Substanz und des eigenen Einflusses
sehr begrenzte Privatisierung
allenfalls behutsame Konversion unter staatlicher Leitung
Gründung von Finanz-Industrie-Gruppen
Waffenexporte
4.3.2 Desintegration - Reintegration
Als Gegentendenz und - konzept zur Desintegration (Entflechtung und Privatisierung) der Rüstungsindustrie gibt es in Rußland seit einigen Monaten Tendenzen zur Reintegration, d.h. zur Reorganisation überregionaler Kooperationen und Verflechtungen. Gründe dafür sind zum einen staatliche Steuerungs- und Finanzdefizite, zum anderen die starke wechselseitige Abhängigkeit der Rüstungsunternehmen untereinander und von überregionaler bzw. öffentlicher Nachfrage. Dies hat konkret zur Bildung korporatistischer Strukturen und von sogenannten Finanz-Industrie-Gruppen geführt, jeweils im Sinne einer Selbsthilfekonzeption der beteiligten Akteure .
Die korporatistischen Strukturen bedeuten letztlich die Institutionalisierung bereits vorhandener informeller Strukturen und dienen sowohl der Interessenvertretung gegenüber dem Staat (eine spezielle Form des Lobbyismus) als auch dem Interessenausgleich zwischen den beteiligten Unternehmen, der Koordination und Selbsthilfe .
Bei den Finanz-Industrie-Gruppen handelt es sich um mächtige, eigenständige Kartelle mit dem im Wandel befindlichen MIK als Kern. Sie sollen das Rückgrat der russischen
Wirtschaft bilden und sich zu transnationalen Konzerne entwickeln, dies zunächst mit staatlicher Hilfe, auf die nach Etablierung und Stabilisierung der neuen Gruppierungen dann verzichtet werden soll. Wesentliche Intention dieser Gruppen ist es, den Niedergang der russischen Rüstungsindustrie zu stoppen, womit eine drastische Ausweitung der Waffenexporte einhergeht..
Diese sich neu bildenden Strukturen haben eine zwiespältige Wirkung auf Reform- und Konversionsbemühungen: auf der einen Seite werden Privatisierungs- und Entflechtungs-bestrebungen blockiert, alte Strukturen verstärkt und Rüstungsexporte ausgebaut; auf der anderen Seite können Anstöße zur Bildung marktwirtschaftlichen Verhaltens gegeben werden.
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