Milgram führte einige Variationen in der Versuchsanordnung an, anhand derer er die Bedingungen der Gehorsamsbereitschaft gegenüber einer Autorität genauer zu erforschen versuchte. Insgesamt wurden 18 verschiedene Experimente durchgeführt, wobei sich die Einführung einer neuen Variation oft aus den unerwarteten Ergebnissen der vorangegangenen Experimente ergaben, die neue Fragen aufwarfen. Betrachten wir die einzelnen Experimente:
Experiment 1: Fernrückkopplung
Bei diesem Versuch waren von dem Schüler keine Beschwerden zu vernehmen, außer daß er nach Verabreichung des 300 Volt Schocks als Zeichen des Protestes gegen die Laborwände hämmerte, was nach dem 315 Volt Schock wieder ausblieb, da auch keine Antworten mehr angezeigt wurden. Hierbei waren 26 von 40 Vpn gehorsam, d.h. sie verabreichten die Höchststufe, 450 Volt, dreimal bevor der Versuchsleiter das Experiment abbrach. Bei den meisten Personen war zu beobachten, daß sie sich in einem Zustand der Anspannung befanden und viele äußerten bei 300 Volt Zweifel am Experiment. Andere führten die Schocks ruhig bis zum Ende aus.
Möglicherweise war das Klopfen aber kein deutliches Zeichen für die Not und die Schmerzen des Opfers und die hohe Gehorsamsbereitschaft dadurch zu erklären. Der Lehrer war also nicht genügend mit den Folgen seines Handelns für das Opfer konfrontiert. Somit müßte die Anzahl der ungehorsamen Personen zunehmen, würde die Vp das Opfer und seine Reaktionen deutlicher wahrnehmen. Um das zu überprüfen wurden drei Variationen eingeführt.
Experiment 2: Akustische Rückkopplung
Hier kamen nun die Tonbandaufzeichungen zum Einsatz die ich unter Punkt 2.e beschrieben habe. Das Opfer war weiterhin nicht sichtbar. Bei dieser Anordnung war nur eine Personen mehr als bei Experiment 1 ungehorsam, jedoch nahm die durchschnittliche Höhe des gegebenen Maximalschocks stark ab.
Experiment 3: Raumnähe
Das Opfer war zusätzlich im selben Raum, wenige Meter von der Vp entfernt. Ansonsten entsprach es der zweiten Versuchsanordnung. Hierbei nahm die Anzahl der gehorsamen Vpn signifikant ab: nur noch 16 von 40 Personen gingen bis ans Ende der Skala gegenüber 24, die sich irgendwann verweigerten.
Experiment 4: Berührungsnähe
Gegenüber Experiment 3 gab es die Änderung, daß das Opfer nur einen Schock erhielt, wenn es seine Hand auf die Schockplatte legte, ab 150 Volt weigerte es sich die Hand darauf zu legen und der Vl befahl daraufhin der Vp die Hand des Opfers notfalls mit Gewalt auf die Schockplatte zu pressen. Die Folge war, daß sich bereits bei 150 Volt 40% weigerten dem Schüler weitere Schocks zu geben oder seine Hand auf die Schockplatte zu legen. Nur noch 12 Personen gaben dreimal 450 Volt bevor der Vl abbrach.
Experiment 5: Neuanordnung der Operationslinie
Dieses Experiment fand in einem weniger luxuriösem Labor im Keller desselben Gebäudes statt. Der Versuch folgte der Anordnung des zweiten Experiments, zusätzlich erwähnte das Opfer jedoch einen Herzfehler zu dem Zeitpunkt an dem er auf dem Stuhl festgeschnallt wird und zusätzlich zu dem bereits beschriebenen Protest nach der Verabreichung von 150, 195 und 330 Volt. Diese neue Serie der Protestäußerung bildete den Standard für jede weitere Variante. Milgram wollte herausfinden, ob diese neuen Bedingungen zusätzlich Gründe für eine Gehorsamsverweigerung liefern würden, was jedoch nicht der Fall.
Experiment 6: Wechsel des Personals
Der Vl wirkte bisher ein wenig streng und technisch, der Schüler dagegen sanft und unaggressiv. Um zu erfahren inwieweit die Persönlichkeit des Opfers und die der Autorität, das Verhalten der Vpn beeinflußt, wurden für die sechste Variation die Charaktere mehr oder weniger vertauscht. Der VL war nun eine sanfte, unaggressive Person, der Schüler dagegen \"wurde von einem Mann mit hartem knochigen Gesicht und vorstehendem Kiefer gespielt, der aussah, als würde er bei einer Prügelei seinen Mann stehen\" (BS.77).
Hierbei waren noch 20 Personen gehorsam. Die Persönlichkeit des Opfers oder der Autorität hatten als durchaus Einfluß auf das Verhalten der VPn, wenn auch in geringem Maße.
Experiment 7: Abwesenheit des Versuchsleiters
Bei dieser Variante verließ der VL nachdem er die anfänglichen Instruktionen gegeben hatte, unter einem Vorwand das Labor und gab seine Anweisungen über Telefon. Die Zahl der gehorsamen Personen (9) nahm ihm Gegensatz zur fünften Versuchsanordnung (26) entscheidend ab, was daraufhin deutete, daß die körperliche Anwesenheit des Leiters ein bedeutender Faktor in der Gehorsamsbereitschaft ist. Darüber hinaus gab es bei diesem Versuch bei einigen VPn eine interessante Verhaltensform zu beobachten: mehrere VPn gaben dem Schüler niedrigere Schocks als vorgeschrieben gewesen wäre und versicherten überdies dem VL über Telefon ordnungsgemäß zuverfahren.
Die Versuchsreihe wurde noch erweitert, indem der VL ins Labor zurückkehrte, wenn sich die VPn weigerten mit dem Experiment fortzufahren. Mit ihrer körperlichen Gegenwart konnte die Autorität dann häufig wieder Gehorsam erwirken.
Experiment 8: Frauen als Versuchspersonen
Die bisherigen Versuchspersonen waren ausschließlich männliche Erwachsene. Milgram hoffte durch Versuche mit Frauen geschlechtsspezifische Unterschiede ermitteln zu können, die Unterschiede in den Resultaten beider Geschlechter ging jedoch gegen Null. Jedoch fiel auf, daß der erlebte Konflikt bei den Frauen größer war.
Experiment 9: Vorbedingungen des Opfers
Die VPn erklärten ihren Gehorsam häufig mit einem Vertrag, den sie selbst und der Schüler mit dem Versuchsleiter geschlossen hatten und zu erfüllen hätten. Der Schüler habe sich freiwillig und ohne Vorbedingungen diesen Verpflichtungen ergeben und habe nun auch die Konsequenzen zu tragen.
Diese Argumentation war so häufig zu hören, daß Milgram und seine Mitarbeiter die Art und Weise, wie das Opfer in das Experiment eintrat derart modifizieren wollten, daß dem Opfer keine Verpflichtungen, die es freiwillig übernommen hatte, unterstellt werden konnten, wenn es gegen die Schocks protestierte.
Die Abänderung bestand darin, daß der Schüler bei der Unterzeichnung des Entlastungsformulares, das normalerwiese routinemäßig vor sich ging,zögerte, auf seinen Herzfehler hinwies und es nur unter der Bedingung unterzeichnete, daß das Experiment auf seinen Wunsch hin abgebrochen würde.Natürlich mißachtete der Vl auch in dieser Versuchsanordnung die Proteste des Schülers. Gegenüber einem Viertel der Vpn, die das Vertragsargument vorbrachten verringerte sich der Prozentsatz der gehorsamen Personen im Vergleich zu Experiment 6 um nur 10 %.
Experiment 10: Institutioneller Zusammenhang
Mehrere Vpn sagten in den Nachbesprechungen, der spezielle Ort der Untersuchungen habe in ihnen Vertrauen in die guten Absichten des Experiments und seinen nutzbringenden Zweck geweckt und deuteten an, das sie nicht gehorsam gewesen wären, hätte das Experiment an einem Ort stattgefunden, für den sie weniger Respekt haben. Um zu erforschen welchen Einfluß auf die Gehorsamsbereitschaft, die Gefühle der Vpn für die Institution haben, innerhalb derer die Versuche stattfinden, wurde das Experiment 10 in ein etwas verwahrlostes Bürohaus in Bridgeport versetzt und von einer unbekannten Institution namens \"Research Associates of Bridgeport\" durchgeführt. Wenn die Vpn weitere Informationen über das Institut oder den Zweck des Experiments verlangten, wurde ihnen geantwortet, daß es sich hier um eine Privatfirma handle, die einen Forschungsauftrag für die Industrie durchführe.
Das Gehorsamsniveau war nicht viel geringer als das in Yale, jedoch traten hier die beiden einzigen Fälle auf, wo sich die Vpn weigerten auch nur den geringsten Schock zu geben.
Scheinbar ist die Tatsache, daß der Versuch innerhalb einer Institution gemacht wird wichtiger als die Frage in welchem Institut es geschieht.
Experiment 11: Die Vp wählt die Schockhöhe selbst
Um überhaupt sagen zu können, ob die Vpn tatsächlich Befehlen gehorchen und nicht nur tun, was sie ohnehin tun würden, etwa aus Sadismus, war es nötig zu überprüfen, was passiert, wenn der Befehl, das Opfer zu quälen ausbleibt.
Das Verfahren war das des fünften Experiment, außer daß dem Lehrer gesagt wurde, er könne die Schockhöhe bei jeder falschen Antwort selbst wählen. Die Mehrzahl der Vpn wählte hier die niedrigsten Schockstufen, wobei, abgesehen von zwei Ausnahmen, niemand über den Punkt hinausging, an dem das Opfer heftig protestierte (150 Volt). Woraus hervorgeht, daß die Gehorsamkeit innerhalb des Milgram-Experiments keinesfalls durch einen Aggressionstrieb oder ähnliches erklärbar ist, was dem inneren Antrieb der Vpn entspringt würde, sondern mit der Unterordnung unter Autorität zusammenhängt.
Bisher hielten sich die Experimente an eng definierte Grundbedingungen innerhalb derer kleinere Abänderungen gewisse psychologische Auswirkungen zeigten. Jedoch gab es immer eine Autorität, die dem Lehrer befahl dem Schüler Schocks zuversetzen, wogegen dieser protestierte. Milgram führt hier drei Elemente ein, deren Veränderung grundsätzlicheren Aufschluß über das soziale Phänomen des Gehorsams geben sollte. Das sind die Elemente Position, Status und Aktion, wobei Position beinhaltet, ob die jeweilige Person den Schock anordnet, verabreicht oder erhält. Status meint, ob die Person eine Autorität darstellt oder einen gewöhnlichen Menschen und Aktion bezieht sich auf das Verhalten der Personen innerhalb des Experiments.
Experiment 12: Der Schüler bittet um Schocks
Um herauszufinden, ob die Vpn hauptsächlich dem Inhalt der Befehle oder dem Status der befehlenden Person gehorcht, wurde folgende Änderung im Ablauf des Versuchs eingeführt:
Nach dem 150 Volt Schock sagte der Vl, die Reaktionen des Schülers seien ungewöhnlich heftig und angesichts seines Herzfehlers sei es besser das Experiment abzubrechen. Daraufhin sagte der Schüler, er wolle fortfahren, mit der Begründung, es sei eine Kränkung seiner Männlichkeit, das Experiment vorzeitig zu beenden. Sowohl der Schüler als auch der Vl beharrten auf ihrer Position. Keine einzige Vp war bereit, auf die Bitte des Schülers einzugehen, woraus hervorgeht, daß nicht der Inhalt des Befehls ausschlaggebend ist, sondern der Status der Person, die ihn gibt.
Damit aber genauere Aussagen über die Basis auf der die Befehlsgewalt der Autorität beruht gemacht werden können sind noch andere Änderungen in der Verteilung der drei Elemente notwendig.
Experiment 13: Ein gewöhnlicher Mensch erteilt Befehle
Bei dieser Versuchsanordnung kamen drei Vpn (darunter zwei eingeweihte) zusammen in das Labor. Der Vl führte sie in das Experiment ein, ohne zu erwähnen welche Schockstufe zu verabreichen sei. Der dritten Person wurde die Aufgabe übertragen, mit einer Uhr auf dem Tisch des Vl die Zeit zu stoppen. Das Telefon klingelte und der Vl erklärte daraufhin, er müsse das Labor kurz verlassen, das E könne jedoch durchgeführt werden, da die Lerninformationen automatisch aufgezeichnet würden. Er verläßt das Labor auch hier ohne zu erwähnen welche Schockstufen zu verabreichen seien. Daraufhin erklärt die neue Vp sie habe ein System entdeckt, wie das Opfer zu bestrafen sei, nämlich indem man die Schockhöhe bei jeder falschen Antwort um eine Stufe erhöhe, worauf sie während des ganzen E besteht.
Obwohl die Befehle nicht vollständig von der Autorität befreit waren, die ja die Situation definiert und Verabreichung der Schocks legitimiert hatte,verweigerten hier immerhin 80% dem gewöhnlichen Menschen den Gehorsam.
Experiment 13a: Die Vp als Zuschauer
Wenn die Vp sich weigerte weitere Schocks zu verabreichen, erklärte die eingeweihte Vp, dann werde sie eben die Schocks selbst verabreichen und setzte sich an den Schockgenerator. Alle Vpn, nun Zeuge einer Quälerei, protestierten gegen das Verhalten ihrer Mit-Vp, fünf von 16 gingen gar mit Gewalt gegen sie oder den Generator vor. Dieses Verhalten steht in krassem Gegensatz zu der Höflichkeit, die sie dem Vl entgegenbrachten.
Experiment 14: Die Autorität als Opfer
Ein gewöhnlicher Mensch befiehlt
Bisher wurde noch nicht untersucht, was geschieht, wenn sich der Status des Opfers ändert. Um Aufschluß hierüber zu erhalten, wurde ein Situation geschaffen, in der dem Vl Schocks gegeben wurden, die ein gewöhnlicher Mensch befahl. Das geschah, indem der Schüler bei der Beschreibung der Strafe Angst vor den Schocks äußert und sich nur unter der Bedingung bereiterklärt, am Experiment teilzunehmen, wenn er einen anderen sehen könne, wie dieser an dem Experiment teilnimmt, wie er daran teilnehmen solle. Der Vl erklärt sich daraufhin bereit, die Rolle des Schülers zu spielen. Bei 150 Volt bittet nun der Vl darum freigelassen zu werden wogegen der eigentliche Schüler darauf besteht, der Absprache folgend weiterzumachen. Bei dem ersten Protest der Autorität brachen ausnahmslos alle Vpn das E ab und befreiten den Vl. Aus den zuletzt geschilderten Versuchen geht eindeutig hervor, daß der Status der Autorität selbst den Gehorsam bewirkt, unabhängig von den Inhalten der Befehle oder der Position der Autorität.
Experiment 15: Zwei Autoritäten erteilen widersprüchliche Befehle
Bei dieser Variation waren zwei Vl im Labor anwesend, die sich bis zum ersten Protest des Schülers (150 Volt) einig waren. Ab diesem Punkt jedoch, befahl die eine Autorität der Vl fortzufahren, die andere aufzuhören. Manche Vpn versuchten nun die größere Autorität unter den beiden auszumachen, was ihnen jedoch nicht gelang. 90% hörten ab dem Zeitpunkt auf, an dem widersprüchliche Befehle kamen, 5% davor und 5% einen Schritt nach diesem Punkt.
Hieraus geht hervor, daß gegensätzliche Befehle, die von Personen erteilt werden, die sie sowohl den selben Status als auch die gleiche Position haben, sich gegensätzlich aufheben. Was passiert, wenn der Status derselbe ist und die Position verschieden ? Konkreter ausgedrückt, hat die Position innerhalb dieses Experiments Einfluß auf die Größe der Autorität, die ihr die Vp zumißt ? Aufschluß über diese Frage soll uns das folgende Experiment geben:
Experiment 16: Zwei Autoritätspersonen, eine als Opfer
Der Vp wird erklärt, daß die zweite Vp kurzfristig abgesagt hat, da es für die Vl jedoch sehr wichtig sei, diese Versuchsreihe noch an diesem Abend zu beenden, schlägt ein Vl vor, als Vp einzuspringen. Die Vl losen unter sich die Vp aus, danach folgt die übliche Prodzedur, der eine Vl spielt die Rolle des gewöhnlichen Opfers. Bei 150 Volt also bittet er freigelassen zu werden, der zweite Vl besteht auf der Fortführung des Experimentes.
Die Ergebnisse dieser Variante sind höchst interessant und aufschlußreich. Entweder brachen die Vpn an dieser Stelle das E ab oder sie kümmerten sich nicht um die Proteste des Opfers und gingen bis zum Schluß. Was folgende Vermutung nahelegt: entweder verliert der Vl in der Position des Schülers auch den Status der Autorität (was wesentlich häufiger vorkam), oder aber er behält diesen Status und aufgrund widersprüchlicher Befehle kann seitens des Lehrers nicht weiter verfahren werden (was wesentlich seltener vorkam). Aus diesen Versuchsanordnung wird sichtbar, daß stets der Status einer Person deren Befehlsgewalt bestimmt, wobei die Position und die Aktion oder der Inhalt des Befehls nur darüber entscheiden können, welcher Autorität, beanspruchen mehr als eine diesen Status, Folge zu leisten ist. Die Vp versucht immer ein hierarchisches Gefüge zu erkennen, indem die höchste Autorität eindeutige Befehle gibt. Ansonsten folgt keine Aktion der Vp.
Möglicherweise erleichtert es den Ungehorsam, wenn man nicht alleine aufständisch ist und umgekehrt erschwert es vielleicht die Rebellion gegen eine Autorität, wenn Gleichgestellte sich fügen. In den folgenden Versuchsanordnungen soll untersucht werden, inwieweit eine Gruppe gleichrangiger, also gewöhnlicher Menschen, sich gruppenkonform verhalten. Konformität ist in diesem Zusammmenhang definiert, als der Zwang der Anpassung hierarchisch gleichgestellter und steht somit im Gegensatz zum Gehorsam, der sich auf höhergestellte Personen bezieht. Beide haben eine große Wirkungen auf das Verhalten der Personen im sozialen Kontext. Es sollen nun die Wirkungen im Experiment untersucht werden.
Experiment 17: Zwei Gleichrangige lehnen sich auf
Das Grundexperiment wird in der Form abgeändert, das die Vp nun zwischen zwei weiteren eingeweihten Vpn am Generator sitzt und Schocks verabreichen soll. Der erste weitere Lehrer weigert sich nach den ersten Protesten des Opfers weiterzumachen und verläßt das Labor. Der Vl befiehlt den beiden zurückgebliebenen Lehrern weiterzumachen. Nach der Verabreichung von 210 Volt weigert sich auch der zweite Lehrer, dem Opfer weitere Schocks zu geben, bleibt jedoch im Labor. Nun sitzt die richtige Vp alleine am Generator und wird aufgefordert fortzufahren.
Keine Variation beschnitt die Macht der Autorität wirksamer: nur noch 10% waren dazu bereit, die höchste Schockstufe zu geben. Mehrere Gründe sind hierfür denkbar:
1. Die Vp wäre sonst gar nicht auf die Idee gekommen aufzuhören.
2. Die gezeigte Gehorsamsverweigerung bestärkte die Vp in ihrer Ablehnung.
3. Die weitere Bestrafung des Opfers wurde gewissermaßen als verwerflich definiert.
4. Die Vp beobachtet, daß der Ungehorsam keine unangenehmen Konsequenzen hat.
5. Die Autorität des Vl wird möglicherweise dadurch geschwächt, daß es ihm nicht gelingt seine Befehle durchuzsetzten.
Doch wird hier möglicherweise nur eine Autorität durch eine andere ersetzt, bilden sich doch schon in den kleinsten sozialen Einheiten Hierarchien in dem Sinn heraus, daß jemand auf einem bestimmten Gebiet als besonders kompetent erachtet wird. So wurden die sich widersetzenden Lehrer von den sich ebenfalls widersetzenden Vpn durchweg gelobt, als \"Männer von gutem Charakter\" oder \"äußerst sympathische Leute\" (BS.140).
Experiment 18: Ein Gleichrangiger gibt Schocks
In der letzten Variation, die Milgram in seinem Buch beschreibt, führt nun die Vp nicht mehr selbst die Schocks aus, sondern ist nur noch an Hilfstätigkeiten beteiligt, die Milgram nicht näher erläutert. Wenn nun eine andere gewöhnliche Person die Schocks verabreicht, sind nur noch die wenigsten bereit, den Gehorsam zu verweigern (3 von 40). Sie sehen sich nicht mehr selbst als diejenigen, die das Opfer quälen, obwohl sie doch daran beteiligt sind, denn der verwerfliche Akt wird von ihnen nicht ausgeführt. Offenbar ist es recht einfach einen Zusammenhang zwischen der eigenen Tätigkeit und den späteren Folgen daraus zu leugnen. Man ist lediglich ein Rädchen in der Maschine, doch was die Maschine produziert sieht man nicht.
3.a. Bewertungsmaßstäbe, Interview und Nachbesprechung
Die jeweiligen Vpn und die Handlungen die sie in diesem Experiment ausführten wurden taktvoll und mit Respekt behandelt. Nach Beendigung des Experiments fand mit jeder Vp ein aufklärendes Gespräch statt, indem ihr zumindest gesagt wurde, daß das Opfer keine Elektroschocks erhalten hatte. Jede Vp hatte Gelegenheit zur Aussöhnung mit dem Opfer und zu einem ausführlichen Gespräch mit dem Versuchsleiter.Den ungehorsamen Vpn wurde das Experiment in einer Weise erklärt, die ihren Ungehorsam positiv bewertete. Bei den gehorsamen Vpn wurde unterstrichen, daß ihr Verhalten und ihre Reaktionen normal gewesen seien. Nach Abschluß der Versuchsreihe erhielten die Teilnehmer einen ausführlichen Bericht, sowie einen Fragebogen, indem sie erneut ihre Gedanken und Gefühle bezüglich ihrer Teilnahme des Experiments ausdrücken konnten.
Als Hauptbewertungsmaßstab wurde nun der Höchstschock herangezogen, den jede Vp ihrem Opfer zufügte. Die Skala reichte also von 0 (eine VP, die sich grundsätzlich weigert dem Schüler Schocks zugeben) bis 30 (eine VP, die die höchste Schockstufe gibt). Wobei Milgram jedoch nicht nur das statistisch erfaßbare Verhalten zur Beurteilung der Experimente diente, sondern auch das Verhalten, das er unmittelbar an den Versuchspersonen beobachtete, wie z.B. ihren zunehmenden inneren Konflikt oder das Phänomen, daß viele VP begannen zu lachen, sowie die Ergebnisse der Nachbesprechung und Nachuntersuchung
6.a. Die Analyse der Ergebnisse
Die Ergebnisse dieser Untersuchungen waren für alle Beteiligten überraschend und beunruhigend. In einem Vortrag über Gehorsamsbereitschaft wurden die Besucher befragt, wie sie sich in dem akustischen Rückkopplungsexperiment (Nr.2) verhalten würden und wie sich andere Menschen verhalten würden. Die Einschätzungen des eigenen Verhaltens, wie auch des Verhaltens Anderer, stehen im krassen Widerspruch zu den tatsächlichen Verhalten. Alle befragten Personen sagten voraus, das sie das Experiment zu unterschiedlichen Zeitpunkten abbrechen würden, nur von einer Randgruppe von zwei bis drei Prozent wurde erwartet, daß sie die höchste Schockstufe gaben. Der Großteil der Befragten gab an, spätestens nach Schockstufe 10 (der Schüler bittet um Abbruch) aufzuhören.
Offenbar glaubten die Befragten, daß die Handlungen eines Menschen allein aus ihm selbst entspringen und keine andere Ursachen haben als die eigene Entscheidung, etwas zu tun oder nicht zu tun. Das Verhalten im Experiment wurde vorhergesagt, ohne die Situation zu bedenken, in der sich diese Menschen befinden, und die größeren Einfluß auf das Verhalten hatte, als die Überzeugungen der Vpn.
Inwiefern hat nun aber die vom Vl geschaffene Situation, das Verhalten der Vpn beeinflußt? Und wo liegen die Ursachen dafür, daß Menschen die Verantwortung für ihr Handeln abgeben können und es ihnen so schwer fällt diese wieder zurückzugewinnen? Milgram versucht auch auf diese Fragen eine Antwort zu geben.
6.b. Milgrams Gehorsamstheorie
Die Bildung von Hierarchien bietet den darin Organisierten wesentliche Vorteile in ihrem Überlebenskampf. Eine angegriffene Gruppe ist straff organisiert viel schlagkräftiger als ein chaotischer Haufen. Es ist kein Zufall, daß die strengste und hierarchieste Ordnung beim Militär zu finden ist. In so fern ist die Entwicklung des Gehorsams eine evolutionäre, da sie das Überleben fördert. Was natürlich nur der Fall ist, wenn jeder der Beteiligten seinen Status innerhalb dieser Hierarchie auch akzeptiert. Da Gesellschaften auf eine solche Weise eine größere Chance zu überleben hatten und sich besser fortpflanzen konnten, hat sich im Laufe der Zeit, diese Bereitschaft zur Unterordnung in unseren Gehirnstrukturen festgesetzt.
Milgram verweist hier auf die kybernetische2 Theorie der Automata, die besagt, daß ein Automaton, das als offenes System charakerisiert ist, das Inputs (z.B. Nahrung) aus der Außenwelt benötigt um seine inneren Zustände aufrecht zu erhalten. Dazu steht ein Suchsystem, ein Einverleibungssystem sowie ein System zur Umwandlung der Inputs in brauchbare Formen zur Verfügung. Sobald diese Automata nicht nur als isolierte Systeme funktionieren sollen, sondern auch miteinander in einer primitiven Organisation, muß ihr Mechanismus modifiziert werden. Es muß ein Hemmfaktor hinzugefügt werden, der bewirkt, daß sie sich gegenseitig erkennen und sich nicht als Teil ihrer potentiellen Nahrung betrachten.
Wenn jetzt die Automata auch noch gemeinsam wirken sollen, denn bisher handeln sie immer noch individuell, ist es nötig eine koordinierende Komponente einzuführen, der die Kontrolle überlassen wird. Um das zu bewerkstelligen muß zwangsläufig wieder die Innenstruktur des Automatons verändert werden, was zur Folge hat, daß eine gewisse Unterdrückung der lokalen (individuellen) Herrschaft im Interesse des übergeordneten Systems eintritt.
Und das ist nun genau der Zustand in dem sich ein Mensch befindet, wenn er bereit ist, einer Autorität zu gehorchen. Milgram nennt das den Agenszustand. Der Gegenstand seiner weiteren theoretischen Untersuchung sind die Voraussetzungen, die es möglich machen in den Agenszustand überzutreten, die Faktoren, die einen Menschen im Agenszustand bleiben lassen und die Konsequenzen, die sich für den psychischen Zustand des Menschen, der sich im Agenszustand befindet ergeben..
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