Wie kam es, dass solche Schriftgelehrten, wie es die Brüder Grimm waren, sich mit \"einfachen Märchen\" beschäftigen?
In eine Zeit, die durch politische und kriegerische Auseinandersetzungen durch Napoleon, sehr geprägt war, begannen die kaum zwanzigjährigen Brüder Grimm mit ihren \"altdeutschen Studien\". Sie wollten die \"schlafende Schrift\" der alten deutschen Literatur wieder zum Leben erwecken und für ihre Zeit neu auftauchen lassen. Dabei ging es ihnen nicht alleine um die \"Worte\" von den Literatur- und Sprachdenkmälern die sie untersuchten, sondern um \"die Worte um der Sache willen\" herauszufinden.
Für sie hatte die Sprache immer eine Geschichte. Sie war das Ergebnis und das Werk menschlichen Denkens und nicht angeboren oder von Gott gegeben, wie es manche behaupteten. Jacob Grimm schrieb über den Ursprung der Sprache: \"Die Kraft der Sprache bildet Völker und hält sie zusammen, ohne ein solches Band würden sie sich versprengen.\" Die Schwerpunkte der Forschungen von Jacob und Wilhelm Grimm waren die germanischen Sprachen und Literaturen mit all ihren Entwicklungen. Natürlich interessierten sie sich auch für andere Sprachen.
Mit ihrer historisch-vergleichenden Methode haben die Brüder Grimm die heutige germanische Sprach- und Literaturwissenschaft, die \"Germanistik\", begründet und auch in der Philologie wirkten sie kräftig mit.
Durch ihren sorgfältigen Vergleich alter Handschriften, die Mitbenutzung literarischer und nichtliterarischer Quellen und die Erhaltung des historischen Charakters der Sprache und der poetische Form der alten Texte, Sprach- und Literaturdenkmäler, schafften sie es, sie ohne fremde Zusätze und Umdichtungen aus der eigenen Zeit heraus zu verstehen. Auf diese Weise konnten sie bedeutende kritische Textversionen von althochdeutschen und mittelhochdeutschen und anderen mittelalterlichen Dichtungen vorstellen. Ihre philologische Genauigkeit konnten sie schon 1812, mit 27 Jahren, beweisen und zwar mit dem Druck der beiden ältesten deutschen Gedichten und dem althochdeutschen Hildebrandlied. Es gelang ihnen nicht nur eine genaue Wiederherstellung des Textes sowie die poetische Bedeutung, sondern auch noch eine genaue neuhochdeutsche Übersetzung, die sie \"Umschreibung\" nannten.
Wilhelm Grimm brachte sogar mit dem Werk \"Die germanische Heldensage\" das Verzeichnis aller erreichbaren Quellen und eine geordnete Zusammenstellung verschiedener Sagen und Heldendichtungen.
Jacob Grimm schrieb 1809 an seinen Bruder Wilhelm Grimm: \"So wenig sich fremde edele Tiere aus einem natürlichen Boden in einen anderen verbreiten lassen, ohne zu leiden und zu sterben, so wenig dann die Herrlichkeit alter Poesie wieder allgemein aufleben, d. h. poetisch. Allein historisch kann sie unberührt genossen werden.\" Womit er 1850 fortfuhr: \"critische philologie, sobald ihr mehrheit von handschriften eines werks vergönnt ist, pflegt nach dem alter wie nach andern inneren und äuszeren kennzeichen derselben sorgfältig stamm und verzweigungen des textes zu ordnen und an ihrem erlangten maszstab das echte oder falsche, das ursprüngliche oder anders gewordene oft mit dem glücklichsten scharfsinn zu ermittel.\" [sic!].
Diese kritischen und nach einem System laufenden Untersuchungen der Brüder Grimm, führten zu großen Entdeckungen, die immer unter dem Namen Grimm bekannt sein werden. Beispielsweise gelang es Jacob Grimm in seiner \"deutschen Grammatik\" (1819-1837) die erste Formulierung des Gesetzes der Zusammenhänge zwischen den Lautverschiebungen der germanischen Sprachen von gotisch bis neuhochdeutsch. \"ein kolossales Werk, einen gotischen Dom, worin alle germanischen Völker ihre Stimme erheben, wie Riesenchöre, jedes in seinem Dialekte,\" nannte Heinrich Heine dieses Werk.
Die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen sind das klassische Beispiel der Weltliteratur der Märchensammlungen. Es ist das meist verbreiteteste Buch auf der Welt nach der Lutherbibel und meistgelesene der deutschen Kulturgeschichte. Es ist in über 160 Sprachen übersetzt. Doch die Brüder Grimm waren nicht die Ersten, die volkstümliche Märchen und Erzählungen aufschrieben, sammelten und bearbeiteten. Doch mit ihren Aufzeichnungen und Werken beginnt die so genannte \"Poesie des Volkes\", die sich durch Märchen, Sagen, Legenden, Lieder, Rätsel, Sprüche und Dichtungen auszeichnet.
Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhundert wurde durch den Dichter Johann Gottfried Herder eine Diskussion über das Verhältnis von \"Kunstpoesie\" und \"Naturpoesie\" ausgelöst. Er schrieb als Vorwort in seinen erschienen Volksliedern: \"Es ist wohl nicht zu zweifeln, daß [sic!]. Poesie und insonderheit Lied im Anfang ganz volksartig (.) gewesen (.). Sie lebte im Ohr des Volks, und auf den Lippen und der Harfe lebendiger Sänger: Sie sang Geschichte, Begebenheit, Geheimniß [sic!], Wunder und Zeichen: Sie war die Blume der Eigenheit eines Volkes, seiner Sprache und seines Landes (.), seiner Musik und Seele.\"
Vor allem die Romantiker wandten sich in ihrer Kunst, der Phantasie, dem Märchen zu.
Wilhelm, der im Schatten Jacobs stehende zweite Bruder.
Schon am Anfang ihrer Jugend, als die Brüder mit der Familie in Hanau wohnten, musste sich Wilhelm an zweiter Stelle hinter seinem Bruder einfinden. Jacob war der Lieblingsneffe der in der Nachbarschaft wohnenden Tante Schlemmer, die Schwester des Vaters, was auch Wilhelms Erinnerungen bestätigen. Auch wird Jacob viel von den Großeltern Zimmer gelobt, wenn Briefe geschrieben werden: \"Schon in diesem Briefwechsel des Großvaters mit den beiden ältesten Enkeln ist Jacob immer der erste Adressat, während an Wilhelm etwa die Nachschrift gerichtet ist. Früh findet sich dieser in die Rolle des Zweiten.\" Doch der Erste zu sein, bringt auch für Jacob Nachteile mit sich. So muss er zum Beispiel nach dem Tod des Vaters mit seinen elf Jahren das Oberhaupt der Familie darstellen und sich darum kümmern, wie es weitergehen soll. Auch in der Schule wird Jacob eine Stufe höher eingestuft; zum großen Bedauern Wilhelms, der sich dadurch noch mehr anstrengt, um seinen Bruder einzuholen. Doch seine gesamte Studienzeit ist von Krankheiten geprägt. Das ganze Leben lang stand Wilhelm zwar an zweiter Stelle, doch nach dem Tod der Brüder, gingen sie gleichermaßen als die \"Gebrüder Grimm\" in die Geschichte ein.
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