Aufbau und Sprache
\"Ungeduld des Herzens\" ist Stefan Zweigs einziger Roman, weist aber trotzdem
novellenhafte Züge auf. Der Autor beschreibt nicht eine langfristige Entwicklung im Leben
des Helden, sondern eine Geschichte, die sich in wenigen Monaten des Jahres 1914 (vor
Kriegsausbruch) abgespielt hat.
Das Buch beginnt mit einer Art novellistischen Rahmenhandlung: Der Autor Stefan Zweig
begegnet im Jahre 1938 kurz hintereinander zweimal seinem Protagonisten, der ihm beim
zweiten Mal seine Geschichte erzählt. Zweig gibt sie dann lediglich wieder.
Der Roman ist kunstvoll angelegt: Die Kombination von zufälligen Ereignissen mit
Handlungen, die sich aus dem Charakter der Hauptperson ergeben, ist psychologisch so
meisterhaft gestaltet, dass sie an antike Schicksalsdramen erinnert, wo der Held - ist die
Handlung einmal in Gang gekommen - den Verstrickungen des Schicksals nicht mehr
entrinnen kann und unweigerlich seinem Los entgegengeht, ohne entscheidend eingreifen
zu können.
Immer wieder gibt es Andeutungen auf den Ausgang der Geschichte in Form von
vorausdeutenden Motiven: Doktor Condors aufopferungsvolle Ehe mit seiner erblindeten
Patientin, die wahrsagende Zigeunerin, Hofmillers Lektüre des Märchens aus \"1001 Nacht\".
Nebenhandlungen
Die Haupthandlung - ein junger österreichischer Offizier treibt ein junges, gelähmtes
Mädchen durch falsches Mitleid (die sogenannte \"Ungeduld des Herzens\"), Furcht vor
Entscheidungen und Schwäche in den Tod - wird gelegentlich durch Nebenhandlungen
unterbrochen, die die Funktion des Erklärens und einer Rückblende haben (etwa die
Geschichte Kekesfalvas oder Dr. Condors).
Der Rahmen hat eine wesentliche künstlerische Funktion zu erfüllen: Er macht den Erzähler
zum typischen Lieblingshelden Zweigs. Denn dieser nimmt sich nicht davon aus, dass viele
der tapfersten Kriegshelden in Zivil recht fragwürdige Helden sind und hinter kriegerischem
Massenmut oft Eitelkeit, Leichtsinn, Langeweile und Furcht vor dem Zurückbleiben oder
gar Todessehnsucht stehen.
Auch in diesem Buch hat sich Zweig selbst beschrieben, und zwar eindeutig in der Gestalt
des Rahmenerzählers (und nicht in der des Exleutnants Hofmiller, obwohl dieser auch
Charakterzüge des Autors trägt).
Die Personen und ihre Vorgeschichten
Anton Hofmiller: Er ist Leutnant in einem KuK Infanterieregiment und ist Träger des Maria Theresien-Ordens. Er stammt aus einer
angesehenen alt5sterreichischeri Familie. Hofmiller ist ein typischer Österreicher: Ihn kennzeichnen eine echte, jedoch nicht zu tief reichende Güte,
eine auf Bewahrung von Takt und Formen bedachte Verbindlichkeit, eine gewisse Gutmütigkeit, Nachgiebigkeit gegenüber äußeren Einflüssen
(ohne die Konsequenzen abzusehen), eine Leichtherzigkeit und Lebensfreude, die zeitweise von melancholischen Reflexionen unterbrochen werden.
Unter der Oberfläche seines Charakters verbergen sich bei der ersten wirklichen Herausforderung seines Lebens tragische Züge eines schweren
Schuldbewusstseins und eines engmaschigen Gewissens. All diese Züge werden anhand einer durchaus unpolitischen und persönlichen
Liebesgeschichte dargestellt.
Edith: Sie war vor ihrer Krankheit ein lebensfrohes, ausgelassenes Mädchen. Die Tatsache, wahrscheinlich für immer an den Rollstuhl gefesselt zu
bleiben, hat sie verbittert. Außer ihrer Cousine und ihrem Vater hat sie keine Gesellschaft und ist daher sehr einsam. Wie eine Ertrinkende klammert
sie sich an die Zuneigung des Leutnants.
Kekesfalva: Der arme Jude Leopold Kanitz hat es durch viele Anstrengungen und zweifelhafte Geschäfte zu ansehnlichem Reichtum gebracht und
wurde durch den Kauf des Landgutes zum ungarischen Adeligen Lajos von Kekesfalva. Seine einzige Tochter bedeutet nach dem Tod seiner Frau
alles für ihn, er leidet mit ihr mit und zerbricht schließlich an ihrem Tod.
Dr. Condor: Er ist überzeugt, dass der Mensch nur dazu da sei, möglichst viel zu helfen. Daher versucht er geradezu Art der Unheilbaren zu sein
und das Unmögliche aus aller Kraft zu erreichen. Als er bei einer Patientin mit seiner Therapie gescheitert ist, hat er sie geheiratet - nicht nur
aus Schuldbewusstsein, sondern aus echtem, liebevollem Mitleid - und die Ehe funktioniert
gut
Beziehungen zwischen den Personen
Stefan Zweig stellt das falsche (Leutnant Hofmiller - Edith von Kekesfalvai) dem echten
Mitleid (Doktor Condor - seine blinde Frau) gegenüber. So sind der Leutnant und der
Doktor gleichsam konträre Charaktere - der eine konsequent und von seinem Handeln
überzeugt; der andere von oberflächlichen Gefühlen getrieben, die er später bitter bereut.
Dr. Condor stellt in einer Weise das Gewissen des Leutnants dar, das ihn auf seine
Verpflichtungen aufmerksam macht und mit gutem Beispiel vorangeht.
Sehr deutlich und psychologisch meisterhaft arbeitet Zweig die ambivalente Beziehung
Hofmillers zu Edith heraus und ihre Bezogenheit auf ihr Selbstverständnis sowie auf das
(Un-) Verständnis der Umwelt, die Angst des Leutnants, sich vor den Kameraden oder
seinen Verwandten durch die Verlobung mit einer gelähmten Halbjüdin lächerlich zu
machen.
Am belastendsten für Hofmiller ist das vollkommene Vertrauen, das Kekesfalva in ihn setzt.
Er würde ihn sogar kaufen, um seine Tochter glücklich zu machen.
Edith aber schmerzt es, stets rücksichtsvoll als Kranke gesehen und behandelt zu werden.
Sie will nicht Mitleid, sondern echte, warme Zuneigung zu ihrer Person.
Haupthandlung
Leutnant Hofmiller wird auf eine Soirè bei den Kekesfalvas eingeladen. Nachdem er, seinen
peinlichen Irrtum zu spät bemerkend, die gelähmte Tochter des Hauses zum Tanz
aufgefordert hat, verlässt er fluchtartig das Haus. Um sein schlechtes Gewissen zu
beruhigen, sendet er ihr Blumen zur Entschuldigung, und wird daraufhin neuerlich
eingeladen.
Nie kommt ihm bei seinen zahlreichen weiteren Besuchen die Idee, dass Edith vielleicht in
ihn verliebt sein könnte - obwohl das eigentlich offensichtlich ist. Er kann kaum mit
ansehen, wie sie sich quält, wieder gehen zu können - die letzte Hoffnung zu einer Heilung
(und der Strohhalm an den sich Kekesfalva verzweifelt klammert) ist Dr. Condor, der dem
Leutnant schließlich auch den ganzen Sachverhalt erklärt. Da der Arzt selbst wenig
Hoffnung für Edith sieht, hoffen alle, dass sich die Gesellschaft Hofmillers positiv auf ihre
Gesundheit auswirkt.
Nachdem sich der Leutnant sogar zu einer Heirat im Falle der Genesung Ediths überreden
hat lassen (und ihm der Spott der Kameraden bewusst wird), überkommt ihn eine
schreckliche Angst vor der Verantwortung und der Abhängigkeit, in die er sich durch sein
(falsches) Mitleid begeben hat, das die arme Edith für echte Zuneigung gehalten und ihr
Vater für die letzte Hoffnung für seine Tochter gehalten hat.
Hofmiller sieht zuletzt keinen anderen Ausweg mehr aus der verzwickten Situation, die ihm
die Freiheit raubt, als um seine Versetzung anzusuchen. Als Edith von seiner Flucht erfährt,
begeht sie Selbstmord.
Im Bewusstsein seiner Schuld \"rettet\" sich der Leutnant in die Kämpfe des Ersten
Weltkrieges. Für besondere Tapferkeit erhält er den Maria-Theresien-Orden.
Interpretation
Stefan Zweig hat den Roman in England geschrieben; er ist als Abschiedsgeschenk an
Österreich zu verstehen, mit dem Zweig seine Verbundenheit mit der alten Heimat zum
Ausdruck bringen wollte, nachdem er sich endgültig fürs Exil entschieden hatte.
Der Held ist - ebensowenig wie Roths Carl Joseph von Trotta ein Lesebuchheld. Er
berichtet freimütig die Geschichte seiner Flucht in den Krieg und in das Heldentum.
Der Wankelmut des Protagonisten gegenüber der verkrüppelten Edith von Kekesfalva
könnte als Zweifel der Österreicher gegenüber dem neuen Rumpfstaat oder als Haltung
Zweigs gegenüber Lotte Altmann gedeutet werden. Letztere Version würde eine gewisse
Rechtfertigung Zweigs eigener Entscheidung gegen Friederike und für Lotte darstellen: Er
brachte es nicht übers Herz, die Jüngern, 'Schwächere' im Stich zu lassen - wie es der Held
in seinem Roman ja tut (ohne direkt vor die Entscheidung zwischen zwei Frauen gestellt zu
sein).
Friederike interpretierte den Roman dahingehend, dass er die weitere Entwicklung des
Verhältnisses von Stefan und Lotte beschrieb - was der Beziehung der beiden einen sehr
negativen Beigeschmack geben würde und eher unrealistisch ist. Denn wäre Zweigs
Verhältnis zu Lotte wirklich solcher Art gewesen, hätte Friederike wohl kaum so oft und
vergeblich auf den Abbruch der Beziehung drängen müssen.
Der Selbstmord (Edith) bzw. der Gedanke daran (Hofmiller> weist vielleicht schon auf den
späteren Freitod des Autors hin, spricht aber jedenfalls die Möglichkeit dieses Ausweges an.
Wie in vielen seiner Werke beschäftigt sich Stefan Zweig mit der Thematik der
persönlichen Unabhängigkeit und Freiheit. Der Protagonist flieht, als er diese gefährdet
sieht, und hat darin Zweig sehr ähnliche Züge.
Die nach außen hin Schwache, Verkrüppelte hat durch ihre verzweifelte Zuneigung eine
große Macht über den Leutnant, der ihr - aus Gutmütigkeit und falsch verstandenem
Mitleid - die Freude seiner Gegenwart nicht nehmen will, anfangs jedoch keinen Gedanken
an daraus möglicherweise erwachsende Verpflichtungen verschwendet, sondern nur die
nette Abwechslung zum militärischen Alltag sieht.
Lange Zeit verdrängt er den Gedanken an die Frau in der kindlichen Edith. Er will nicht
wahrhaben, dass auch sie - als Behinderte - fähig ist, zu lieben, und Beweise für seine
Zuneigung fordert. Dadurch erkennt er viel zu spät, in welche Situation er sich begeben hat,
und sieht nur mehr die Flucht als Ausweg.
|