Hermann Hesse schrieb seinen "indischen" Roman "Siddhartha" in einer Zeit, in der fernöstliche Religion und Philosophie in Deutschland Einzug hielten. Jedoch war Hesses Begegnung mit der indischen Geisteswelt schon im Elternhaus lebendig und sogar er selbst war in Indien gewesen. Als Hesse 1919 mit seinen Vorstudien zu "Siddhartha" begann, besann er sich auf den Kern buddhistischer Weltanschauung und nicht auf seine Reiseerfahrungen. Nachdem Hesse sein begonnenes Werk für zwei Jahre ruhen ließ, da es ihm sehr schwer fiel etwas nicht selbst erlebtes zu schreiben, stellte er seinen Roman erst 1922 fertig. Im gleichen Jahr wird "Siddhartha" noch veröffentlicht.
Hermann Hesse erzählt in seinem Roman den Lebensweg des Brahmanensohnes Siddhartha. Siddharthas Lebensgeschichte ist klar gegliedert und die Stationen seines Weges genau getrennt. Der Roman besteht aus zwei Teilen und berichten von Siddharthas Suche nach dem Selbst, seinen Irrtümern und Wandlungen und seiner schließlichen Erlösung. Im ersten Teil erfährt der junge Siddhartha die Vergeblichkeit der Selbstsuche auf dem traditionellen, frömmigen Weg im Hause seines Vaters, einem Bramahnen, und umgeben von Weisen, Gelehrten und seinem guten Freund Govinda, welcher nie von seiner Seite weicht. Die Bramahnen, die oberste hinduistische Kaste, galten als heilig und waren meist Priester, Gelehrte, Dichter oder Politiker. Dem jungen Siddhartha genügen diese traditionellen Wege jedoch nicht, er sucht den Zugang zum eigenen Ich, das eins ist mit der Weltenseele, Atman. Er weiß, Wissen allein wird ihn nicht befriedigen, so beschließt er eines Tages das Haus seines Vaters zu verlassen, um mit den Samanas mitzureisen, um von diesen Wandermönchen zu lernen. Sein Vater ist jedoch strikt dagegen, doch als er merkt, daß er seinen Sohn durch nichts von seinem Verlangen abbringen kann, gibt er dem Wunsch nach, und läßt ihn ziehen. Govinda, Siddharthas treuer Freund, begleitet ihn auf seiner Reise. Bei den Samanas hofft Siddhartha, durch Askese sein weltliches Ich zu überwinden, um sein wahres Selbst zu finden. Streng gegen sich selbst, unterwirft er sich den Ritualen der Entselbstung durch Schmerz, Meditation und Entbehrung. Jedoch muß er erkennen, daß sein ganzes Bemühen nichts weiter ist als "Flucht aus dem Ich, ... ein kurzes Entrinnen aus der Qual des Ichseins, ... eine kurze Betäubung gegen den Schmerz und die Unsinnigkeit des Lebens".
Siddhartha und Govinda setzen ihre Reise fort. Sie hören während ihrer Reise ständig den Namen "Gautama", der Name eines Mönches, der mit seinen Lehren durchs Land zieht. Es wird behauptet, dieser Mann sei Buddha, der das Nirvana, die Vollendung erreicht habe. Govinda, der sich von der Euphorie des Volkes anstecken läßt, bittet Siddhartha, Gautama aufzusuchen. In der Stadt Savathi begegnen sie ihm; sie erkennen ihn sofort unter Tausenden von Pilgern und Mönchen aufgrund seiner "Vollkommenheit", "Ruhe" und "Stille". In der Begegnung mit Gautama Buddha sieht Siddhartha ein, daß Erlösung nicht gelehrt, sondern nur selber gesucht und erfahren werden kann, und so löst er sich aus der Gemeinschaft der Samanas und der Nachfolge Buddhas, währen sein Freund Govinda von der Lehre Gautamas derart beeindruckt ist, daß er beschließt Gautama um Aufnahme in dessen Gemeinschaft zu bitten und einer seiner Jünger zu werden. Mit Govinda aber bleibt sein bisheriges Leben zurück, das bloß Flucht vor dem Ich war, Angst vor der Selbstbegegnung. Er beschließt, der Welt nicht mehr zu entfliehen, sondern in ihr sich selber zu begegnen. Mit diesem Vorsatz nicht mehr nach Hause und zu seinem Vater zurückzukehren schließt der erste Teil der Lebensgeschichte.
Der zweite Teil führt Siddhartha mitten hinein ins Leben, in die Erfahrung der Liebe und des äußeren Erfolgs. Das erste Kapitel schildert seine Begegnung mit der schönen Kurtisane Kamala, die ihm die sinnliche Liebe lehrt. Um Kamala jedoch zu gefallen sucht Siddhartha Erfolg und Reichtum, denn Kamala verlangte Siddhartha müsse wenigstens drei Dinge besitzen: Schuhe, Gewand und Geld, um im Schloß aufgenommen werden zu können. Siddhartha, der zuvor nur von Fasten, Warten und Denken lebte, beschafft sich die ihm aufgetragenen Dinge und lebte von nun an bei Kamala. Er wird ein wohlhabender Mann, wobei er in seinem Herzen immer noch seinen alten Idealen folgt.
Sein nächster Aufenthalt ist bei dem Kaufmann Kamaswami. Es fällt ihm leicht die Kunst des Handelns zu lernen, weil sein Herz nicht am Erfolg hängt. Zwar bemüht er sich ernsthaft um Kamaswamis Geschäfte, aber Verlust oder Gewinn bedeuten ihm wenig. Doch Siddhartha fällt immer weiter in das Leben des Reichtums hinein, so daß ihm bald vor sich selbst ekelt, denn Spielsucht und Habgier hatten Besitz von ihm ergriffen. Nachdem ein Traum ihm sein wertloses gegenwärtiges Leben vor Augen geführt hat, folgt er seiner inneren Stimme und verläßt Kamaswami und Kamala ohne Abschied, obwohl Kamala ein Kind von ihm erwartet. Siddhartha, der nicht weiß, wohin er gehen soll, gelangt an einen großen Fluß. Er wünscht sich nichts sehnlichster als den Tod, doch als er gerade seinem Leben ein Ende machen wollte, hört er aus seiner tiefsten Seele kommend ein Wort, eine Silbe, die ihn vom Tode bewahrt. Es ist das alte Anfangs- und Schlußwort aller brahmischen Gebete, das "Om", das soviel bedeutet wie "das Vollkommene" oder die "Vollendung". Er ist nun zu neuen Wandlungen bereit, denn er hat sein altes, stolzes Ich abgelegt. Als Siddhartha unter einem Baum am Fluß liegt, begegnet ihm Govinda, sein alter Jugendfreund. Als Schüler des Fährmanns Vesuveda lernt er nun, dem Fluß zu lauschen und die Einheit allen Lebens zu begreifen. Bei Vesuveda am Fluß lernt Siddhartha Zuhören. Von diesem Zeitpunkt an, findet Siddhartha auf jede Frage eine Antwort vom Fluß. Jahre vergehen, und die Nachricht, daß Gautama im sterben liegt, geht durch das ganze Land. Auch Kamala will ein letztes mal den Buddha sehen, sie reist mit ihrem Sohn durch den Wald und wird von einer Schlange gebissen. Vesuveda findet sie und bringt sie zu seiner Hütte - doch die Hilfe kommt zu spät und Kamala stirbt. Kamalas Sohn bleibt bei seinem Vater. Der kleine Siddhartha ist jedoch an die ärmlich Verhältnisse seines Vaters nicht gewöhnt, ist ungehorsam und unhöflich. Er kann nicht verstehen, warum sein Vater ihm immer nur mit Milde und Geduld, trotz aller Missetaten, begegnet. Schließlich beschließt er zu fliehen und wieder in die Stadt zurückzukehren. Siddhartha will seinen Sohn zurückholen, erkennt aber bald, daß es sinnlos ist, denn sein Sohn muß schließlich seinen eigenen Weg suchen. Siddhartha ist mit Schmerz und Sehnsucht erfüllt, doch lernt daraus, auch andere Menschen als seinesgleichen zu verstehen und zu lieben. Dieses Mal gibt ihm der Fluß viel mehr, als er ihm je gegeben hat. Er gibt ihm die Antwort auf all seine Fragen. Siddhartha hört im Fluß das Om, die Vollendung und in seinem Gesicht blüht Heiterkeit, da er aufgehört hat sein Schicksal zu bekämpfen.
Vesuveda der inzwischen sehr alt geworden ist, hat nur mehr auf diesen Augenblick gewartet. Er erkennt, daß seine Aufgabe erfüllt ist und stirbt. Nach Vesuvedas Tod bleibt Siddhartha als Fährmann am Fluß. Der Fährmann Siddhartha ist in der Stadt bereits bekannt, man spricht dort von einem weisen, alten Mann, der die Vollendung gefunden hat. So macht sich auch der ewig suchende Govinda auf den Weg, um diesem Mann aufzusuchen. In einem langen Gespräch mit seinem Jugendfreund erkennt Govinda, daß aus Siddhartha, dem einst Suchenden ein Weiser geworden ist, einer der das erstrebenswerteste gefunden hat - Siddhartha hat die Vollendung erlangt und Govinda erkennt in Siddharthas Erscheinung die Einheit des Seienden.
Die Sprache dieses Romans ist die rhythmische Prosa, welche dem Roman eine gleichförmige, meditative Art verleihen. Dies unterstreicht auch den legendenhaften Charakter des Romans, seine Gleichnishaftigkeit. Der Fluß, als zentrales Symbol in diesem Roman, verkörpert jene Einheit von Gleichzeitigkeit und Wechsel, den Kreislauf der Verwandlungen, in den die Vision am Ende des Romans mündet. Die Botschaft der Liebe, der tiefe Gedanke der Einheit und seine Gestaltung im Text, ließen Hesses Zeitgenossen in diesem Roman die Synthese fernöstlicher und abendländisch-christlicher Überzeugung finden. Hermann Hesses "Siddhartha" fand begeisterte Aufnahme und Zustimmung bei der Bevölkerung. Siddhartha gewann dem Dichter neue Leser, vor allem bei der Jugend fand er großen Anklang. Berühmte deutschsprachige, aber auch und vor allem englische Schriftsteller waren von Hesses Werk begeistert. Geradezu sensationell war der Erfolg unter den Anhängern der amerikanischen Hippiebewegung. Die jungen Menschen glaubten in diesem Werk das Vorbild für eine Bewusstseinserweiterung durch subjektive Wandlung gefunden zu haben. Bis heute gilt "Siddhartha" als der Roman der Selbstbefreiung.
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