Daß nun ein Weltmeister ein halbes Dutzend mittlerer oder unmittlerer Spieler mit der linken Hand niederfegt, war an sich wenig erstaunlich; verdrießlich wirkte eigentlich auf uns alle nur die präpotente Art, mit der Czentovic es uns allzu deutlich fühlen ließ, daß er uns mit der linken Hand erledigte. Er warf jedesmal nur einen scheinbar flüchtigen Blick auf das Brett, sah an uns so lässig vorbei, als ob wir selbst tote Holzfiguren wären, und diese impertinente Geste erinnerte unwillkürlich an die, mit der man einem räudigen Hund abgewendeten Blicks einen Brocken zuwirft." (Schachnovelle Seite 33 f.)
Der Ausschnitt ist im Prinzip so aufgebaut wie die Mehrzahl der Satzgefüge dieser Novelle. Der sachlichen Feststellung folgt als Beispiel ein ins Bild gehobener Vergleich. Auffällig an diesem Zitat ist aber die Häufigkeit von Pronomen und Adverbien, die dem Ganzen, trotz einiger hervorstehender, schlagkräftiger Adjektive und bedeutungsvoller Substantive das Flüssige, aber auch das Farblose der Alltagssprache geben. Dies ist ein Zug, der durch die ganze Novelle zu verfolgen ist, selten aber so offensichtlich wie hier. Hervorgehoben werden muß neben der charakteristischen Neubildung "unmittlerer." das Adjektiv "präpotent" (veraltet: übermächtig), das hervorstechend das Überhebliche und zugleich Ungeistige Czentovics bezeichnet. Ebenso charakteristisch für die geringschätzige Art des Weltmeisters ist die Wendung "mit der linken Hand".
6.) Merkmale einer Novelle
Die "Schachnovelle" besitzt wie alle anderen Novellen charakteristische Merkmale, die typisch für "die kleine Schwester des Dramas" (Benno von Wiese) sind. Die Merkmale sind:
a) Authentizitätsnachweis
b) Geschlossene Form
1.) Exposition
2.) strammer Handlungsstrang
3.) Höhe-/Wendepunkt
c) der "Zufall als Regent"
d) Dingsymbol
a) Authentizitätsnachweis:
Der Autor Stefan Zweig läßt die "Schachnovelle" glaubwürdig erscheinen, indem er den Ort des Geschehens, die Zeit und die handelnden Personen genau bestimmt. Die Handlung findet auf einem Passagierschiff statt, das in New York gestartet ist und den Hafen von Buenos Aires als Ziel hat. Diese Schiffsreise findet in der Vorkriegszeit des zweiten Weltkrieges statt, die Personen werden namentlich vorgestellt; der Ich-Erzähler bewahrt jedoch seine Anonymität und gibt weder sein Alter noch seinen Namen oder seine Herkunft preis. Von den Personen Dr. B. und Mirko Czentovic wird sogar ein Teil ihres Lebens erzählt - von Dr. B. erfährt man die Ursache seiner Schachkunst, von Mirko Czentovic wird die Kindheit geschildert.
b) Geschlossene Form:
1.) Exposition:
In der Exposition werden die Hauptpersonen, der Handlungsort und die Zeit, in der die Novelle spielt, dargestellt. Die Exposition in der "Schachnovelle" reicht von dem Beginn der Schiffsreise bis zu der Vorstellung der Person Mirko Czentovic. Näheres siehe "Authentizitätsnachweis".
2.) strammer Handlungsstrang:
Der hauptsächliche Handlungsstrang, nämlich die Schiffahrt und die dort stattfindenden Begebenheiten, werden nur durch die Rückblicke unterbrochen, die dem Leser die Personen des Dr. B. und des Czentovic näherbringen sollen. Bis zum Ende der Novelle läuft die Handlung hintereinander ab, es gibt keine Nebenhandlungen, die sich parallel zu den Ereignissen mit Czentovic, Dr. B., McConnor und dem Erzähler entwickeln.
3.) Höhe-/Wendepunkt
Die Form der Novelle ist in sich abgeschlossen - sie beginnt mit dem Antritt der Schiffsreise und endet mit einem annähernden Nervenzusammenbruch von Dr. B. Fast die ganze Zeit wird der Höhepunkt der Novelle, nämlich die Partie Czentovic - Dr. B., angestrebt. Durch das plötzliche Eintreten Dr. B.s bei dem Spiel zwischen McConnor und Czentovic wird der erste Teilnehmer vom "Kampf der Giganten" vorgestellt, vorher wurde Czentovic durch seine bloße Anwesenheit auf dem Schiff eingeführt. Durch die geniale Hilfestellung Dr. B.s bei dem fast schon verlorenen Kampf wird der Leser und auch Czentovic auf ihn aufmerksam und ist auf seine Fähigkeiten im abschließenden Spiel gegen den Weltmeister gespannt. Auch ist der Leser neugierig, wie sich der kühle Czentovic im Spiel gegen Dr. B. behaupten wird, da dieser ihm in einer schon gewonnen geglaubten Partie noch ein Unentschieden abringen konnte.
c) der "Zufall als Regent"
Der Zufall spielt auch in dieser Novelle eine große Rolle. Die erste glückliche Begebenheit ist, daß sich sowohl der Schachweltmeister Czentovic auf dem selben Schiff befindet wie der Erzähler als auch Dr. B. Dazu kommt, daß McConnor - ein wohlhabender Millionär und Schachliebhaber, der es sich leisten kann, sich den Wunsch nach einem Match gegen den amtierenden Weltmeister zu erfüllen - auch an Bord ist.
d) Dingsymbol
Das Dingsymbol (der "Falke") ist als Merkmal einer Novelle umstritten, da eine Novelle nicht zwingend ein Leitmotiv besitzen muß. In der "Schachnovelle" ist jedoch ein Dingsymbol, nämlich das Schachspiel, vorhanden. Es begleitet den Leser die gesamte Erzählung hindurch und tritt immer wieder in Erscheinung.
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