Text: Reiner Kunze, "Fünfzehn"
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Sie trägt einen Rock, den kann man nicht beschreiben, denn schon ein einziges Wort wäre zu
lang. Ihr Schal dagegen ähnelt einer Doppelschleppe: lässig um den Hals geworfen, fällt er in
ganzer Breite über Schienbein und Wade. (Am liebsten hätte sie einen Schal, an dem
mindestens drei Großmütter zweieinhalb Jahre gestrickt haben - eine Art Niagara-Fall aus
Wolle. Ich glaube, von einem solchen Schal würde sie behaupten, dass er genau ihrem
Lebensgefühl entspricht. Doch wer hat vor zweieinhalb Jahren wissen können, dass solche
Schals heute Mode sein würden.) Zum Schal trägt sie Tennisschuhe, auf denen jeder ihrer
Freunde und jede ihrer Freundinnen unterschrieben haben. Sie ist fünfzehn Jahre alt und gibt
nichts auf die Meinung uralter Leute - das sind alle Leute über dreißig.
Könnte einer von ihnen sie verstehen, selbst wenn er sich bemühen würde? Ich bin über
dreißig.
Wenn sie Musik hört, vibrieren noch im übernächsten Zimmer die Türfüllungen. Ich weiß,
diese Lautstärke bedeutet für sie Lustgewinn. Teilbefriedigung ihres Bedürfnisses nach
Protest. Überschallverdrängung unangenehmer logischer Schlüsse. Trance. Dennoch ertappe
ich mich immer wieder bei einer Kurzschlussreaktion: Ich spüre plötzlich den Drang in mir,
sie zu bitten, das Radio leiser zu stellen. Wie also könnte ich sie verstehen - bei diesem
Nervensystem?(.)
Auf den Möbeln ihres Zimmers flockt der Staub. Unter ihrem Bett wallt er. Dazwischen
liegen Haarklemmen, ein Taschenspiegel, Knautschlacklederreste, Schnellhefter, Apfelstiele,
ein Plastikbeutel mit der Aufschrift "Der Duft der großen weiten Welt", angelesene und
übereinandergestülpte Bücher (Hesse, Karl May, Hölderlin), Jeans mit in sich gekehrten
Hosenbeinen, halb- und dreiviertel gewendete Pullover, Strumpfhosen, Nylon und benutzte
Taschentücher. (Die Ausläufer dieser Hügellandschaft erstrecken sich bis ins Bad und in die
Küche.) Ich weiß: Sie will sich nicht den Nichtigkeiten des Lebens ausliefern. Sie fürchtet die
Einengung des Blicks, des Geistes. Sie fürchtet die Abstumpfung der Seele durch
Wiederholung! Außerdem wägt sie die Tätigkeiten gegeneinander ab nach dem Maß an
Unlustgefühlen, das mit ihnen verbunden sein könnte, und betrachtet es als Ausdruck
persönlicher Freiheit, die unlustintensiveren zu ignorieren. Doch nicht nur, dass ich ab und zu
heimlich ihr Zimmer wische, um ihre Mutter vor Herzkrämpfen zu bewahren - ich muss mich
auch der Versuchung erwehren, diese Nichtigkeiten ins Blickfeld zu rücken (.).
Einmal bin ich dieser Versuchung erlegen.
Sie ekelt sich schrecklich vor Spinnen. Also sagte ich: "Unter deinem Bett waren zwei
Spinnennester."
Ihre mit lila Augentusche nachgedunkelten Lider verschwanden hinter den hervortretenden
Augäpfeln, und sie begann "Ix! Ääx! Uh!" zu rufen, so dass ihre Englischlehrerin, wäre sie
zugegen gewesen, von soviel Kehlkopfknacklauten - englisch "glottal Stopps" - ohnmächtig
geworden wäre. "Und warum bauen die ihre Nester gerade bei mir unterm Bett?"
"Dort werden sie nicht oft gestört." Direkter wollte ich nicht werden, und sie ist intelligent.
Am Abend hatte sie ihr inneres Gleichgewicht wiedergewonnen. Im Bett liegend, machte sie
einen fast überlegenen Eindruck. Ihre Hausschuhe standen auf dem Klavier. "Die stelle ich
jetzt immer dorthin", sagte sie. "Damit keine Spinnen hineinkriechen können."
(Quelle: Kunze, Reiner: Die wunderbaren Jahre. Prosa. 30. Auflage, Frankfurt am Main, 2003)
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Reiner Kunze
* 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge
- Bergarbeitersohn
- Studium der Philosophie und Journalistik an der Uni Leipzig
- 1955 bis 1959 wissenschaftlicher Assistent und Lehrauftrag an der Uni Leipzig
- seit 1962 freiberuflicher Schriftsteller
- erhielt verschiedene Literaturpreise
(Quelle: Kunze, Reiner: Die wunderbaren Jahre. Prosa. 30. Auflage, Frankfurt am Main, 2003)
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Kurzgeschichte "Fünfzehn"
Die Gattung "Kurzgeschichte" hat noch nicht wirklich feste Regeln, aber bestimmte
Merkmale sind dennoch zu erkennen.
1.) kurze Prosadichtung
- eine A4 Seite Text
2.) plötzlicher, intensiver und unvermittelter Anfang
- plötzlicher Einstieg
- Beschreibung einer Person, die man scheinbar kennen muss
- "sie" ist.... (Wer ist "sie"?)
3.) unvermuteter Schluss, der keine Lösung für das geschilderte Problem bietet
- Die Vermutung liegt eigentlich näher, dass die Tochter das nächstes Mal sauber macht
- wenigstens unter dem Bett - um zu verhindern, dass sich wieder Spinnen einnisten.
- Weitere Erziehungsversuche oder -vorschläge seitens des Vaters bleiben offen.
4.) entscheidender Lebensabschnitt wird dargestellt und meistens in verschiedenen
Einzelbeobachtungen zusammen geschnitten
- in bestimmte Abschnitte aufteilbar
o optische Beschreibung (Kleidung)
o Musik
o Aufräumverhalten gekoppelt mit einem Dialog zwischen Vater und Tochter
5.) wenige Personen (2-3) - es ist, als ob man diese kennen muss - häufig Ich-Erzähler -
meistens Dialoge
- Ich - Erzähler (der Vater)
- die Tochter
- eventuell die Mutter nennbar
- vom Ich-Erzähler vorgestellter Dialog zwischen ihm und seiner Tochter
6.) häufig Parataxen
- Einmal bin ich dieser Versuchung erlegen.
- Sie ekelt sich schrecklich vor Spinnen.
- Direkter wollte ich nicht werden, und sie ist intelligent.
- Etc.
7.) häufige Verwendung von Alltagssprache
- .... um ihre Mutter vor Herzkrämpfen zu bewahren....
- sich ekeln
- "Ix! Ääx! Uh!"
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