STILLER
Der Bildhauer litt unter der ständigen Angst, ein Versager zu sein. Immer plagte ihn das schlechte Gewissen und er wirkte menschenscheu. Für alles entschuldigte er sich, auch wenn es gar keinen Grund dafür gab. Die anhaltende Erfolglosigkeit und die damit verbundenen geringen Einnahmen standen Sibylles beruflicher Anerkennung gegenüber und verstärkten seine Selbstzweifel. Aber er betrank sich auch und hatte Anfälle von ordinärer Grobheit. Sein sozialer Hintergrund war armselig. Sein Stiefvater lebte in einem Altersasyl, seinen Vater erwähnte er nie, die Mutter war eine Eisenbahnerstochter.
Stillers Ich-Bezogenheit provozierte oft Streit, Ungerechtigkeiten und Gefühlsausbrüche.
Er selbst führte viel auf seine Niederlage in Spanien zurück. Er brauchte Sibylles Müdigkeit, ihren Hang zum Kranksein, ihre Schonungsbedürftigkeit, um sich selbst dadurch kraftvoller vorzukommen. Er klammerte sich an ihre Schwäche. Eine gesunde Frau hätte mehr Kraft von ihm verlangt. Er wollte Julika zum Blühen bringen.
Stiller ist überzeugt, dass Freiheit der Schritt in den Glauben ist, alles andere ist nicht Freiheit, sondern nur Geschwätz.
Er selbst sieht den verschollen Stiller als einen der nicht er selbst sein will.
JULIKA
Mit 18 Jahren war sie Waise
Die feine und vornehme Julika war frigide. Sie litt darunter, dass männliche Sinnlichkeit immer ein wenig ekelerregend auf sie wirkte. Nur das Ballett konnte ihr Befriedigung geben. In einer Verkleidung fühlte sie sich wohl und auf der Bühne spürte sie Lob und Anerkennung.
Bei wartenden Verehrer entschuldigte sie sich mit ihrer Müdigkeit. Und sie hatte Angst vor Autos.
Stiller schien ihr der einzige Mann zu sein, vor dem man keine Angst zu haben brauchte. Denn auch sie hatte mit vielerlei Ängsten zu kämpfen.
In Stiller hatte sie einen Menschen, dem sie immerfort verzeihen konnte. Sie trug in der Öffentlichkeit gerne ihren gespielten Charme zur Schau, wenn ihr der Hof gemacht wurde. Es machte ihr Spaß, das Lob ihrer Schönheit zu hören in Verbindung mit einem Lob auf ihre Kunst, alles Andere ging ihr zu weit.
ROLF
Der Staatsanwalt Rolf genießt als juristischer Fachmann, Bürger und Familienvater den besten Ruf. Er gilt als sehr beherrscht, immer überlegen und von kühlem Temperament. Er ist der Meinung, dass man die Ehe nicht in einem spießbürgerlichen Sinne begreifen dürfte. Er ist gern bereit, den Maskenball-Flirt seiner Frau hinzunehmen, setzt natürlich auch ihre Großzügigkeit voraus. Als es aber ernst wird mit Sibylles Verhältnis, bricht seine Eheideologie zusammen. Ihr Anspruch auf Freiheit und das Rätseln um seinen Widersacher bringen ihn fast um den Verstand. Ihre Ehe scheitert zunächst an der Sprachlosigkeit.
SIBYLLE
In der Ehe mit Rolf, dem ewig Selbstsicheren, ist in Sibylle das Bedürfnis gewachsen, ihm einen Schrecken einzujagen. Dabei versteht sie selber nicht, wie man zwei Männer lieben kann. Sie hält nichts von einem Spielraum in der Ehe. Sie wirft ihrem Mann vor, für ihn nur irgendeine Frau zu sein. Es hat sie geschmerzt, wenn Rolf sich in eine andere verliebt hat. Es stört sie, dass er nie Zeit für sie hat, wenn es ihm nicht passt.
In Amerika beginnt sie ein neues Leben. Emanzipation durch Selbständigkeit wird für sie zur Grundlage einer lebbaren Zukunft.
über das Buch
Stiller ist nicht nur ein Künstlerroman, sondern auch ein Gesellschaftsroman, ein Liebesroman, ein Bildungsroman, der Roman einer Freundschaft, ein Glaubensroman und auch noch ein Kriminalroman. Von welcher der vielen möglichen Seiten her man sich dem dargestellten Geschehen auch nähert, die zentrale Fragestellung seines Werkes ist die Frage nach der Identität der Persönlichkeit. Max Frisch spricht von "Bildnissen". Da heißt es z.B. "Du sollst dir kein Bildnis machen" oder "Du bist nicht, wofür ich dich gehalten habe". Das wirft die Frage auf, für wen hält man den anderen. Will man so sein, wie man vom anderen eingeschätzt wird? Der Ausspruch "Du sollst dir kein Bildnis machen" geht zurück auf das Alte Testament. Wir erkennen in dieser Forderung des Alten Testaments das Anliegen der Identitäts-Bewahrung. Bildnisse, die man sich von einem Menschen macht - oder die sich andere von uns machen - verbergen die wahre Identität des Menschen, sie werden zu Masken, sie grenzen menschlichen Spielraum ein. Zum Vorurteil braucht es dann nicht mehr weit. Stiller gelingt es nicht, das "Bildnis" zu zerstören, das im Bewusstsein jener Menschen existiert, die ein Stück seines Lebensweges mit ihm geteilt haben. Das "Bildnis" bleibt übermächtig und treibt ihn zur Selbstaufgabe.
Identitätskrisen sind heute ein relevantes Thema. Midlife-crisis, hohe Scheidungsraten, Alkoholismus, Suchtprobleme und den Wunsch zum "Aussteigen" kennt man gut in den Industrieländern. So kann man den Roman "Stiller" als ein höchst modernes Buch bezeichnen.
Der Identitätswechsel kann für manche Menschen zur realen Überlebensnotwendigkeit werden.
Auch biographische Züge finden sich in diesem Werk wieder, z.B. die Eindrücke seiner Ersten Amerika- und Mexiko-Reise von 1952, aber auch Ehe-Schwierigkeiten, die im Roman einen breiten Raum einnehmen. Die Trennung von Frau Constance fällt in das Erscheinungsjahr, 1954. Bei seinem Erscheinen traf der "Stiller" auf eine gehörige Portion Skepsis, denn es handelte sich um keine gewöhnliche Geschichte. Vier Jahre später ist diese Skepsis der Bewunderung gewichen.
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