5.1 Staatliche Sozialpolitik
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Aus Angst vor einer politisch-sozialen Revolution des Proletariats wurde der Staat in dieser Situation des Unmuts regelrecht zum Handeln gezwungen. Bismarck wollten den führenden Schichten die Vorzugsstellung, d.h. die bestehenden Besitz- und Machtverhältnisse, erhalten, musste aber gleichzeitig das Proletariat mit einer umfassenden Sozialgesetzgebung versöhnen. Er wollte dadurch das Interesse von der Partei abwenden, was die politische Wichtigkeit schwächen sollte. Die Arbeiter sollten erkennen, dass der Staat sich um sie sorgt. Deshalb erließ er mehrere Gesetze, darunter das Krankenversicherungsgesetz (1883), das Unfallversicherungsgesetz (1884) und die Invaliditätsversicherung und Altersversorgung (1889). Das Unfallversicherungsgesetz besagte z. B., dass bei einem Betriebsunfall alle entstandenen Arztkosten von der Versicherung gedeckt waren und eine Rente für die Dauer der Erwerbstätigkeit gesichert wurde. Diese Versicherung wurde vom Arbeitgeber bezahlt.
Bismarcks Sozialpolitik war jedoch nicht die erhoffte Rettung aus dem Elend. Sie war kein umfassendes Sozialprogramm, bot nur minimalen Schutz und betraf bei Weitem nicht alle Arbeiter. So waren z. B. 1886 nur ca. 10% der Bevölkerung versichert. Erst unter Bismarcks Nachfolger konnten einige Erfolge verzeichnet werden, jedoch ohne die grundlegenden Spannungen in der Gesellschaft zu vermindern.
5.2 Maßnahmen der Unternehmer
Nur wenige Großunternehmer zeigten sich bereit, zusätzlich für ihre Arbeiter zu sorgen; teilweise aus humanistischen oder christlichen Gründen, oftmals spielten aber auch wirtschaftliche und politische Eigeninteressen eine große Rolle. Der Unternehmer sah seine Arbeiter als eine große Familie, für die er zu sorgen hatte, die aber als Gegenleistung treu, gehorsam und fleißig sein mussten. Oft kontrollierten sie sogar die politische Gesinnung und den persönlichen Lebenswandel der Arbeiter. Manche Unternehmer ließen aber z. B. auch Fabrikschulen für die minderjährigen Arbeiter errichten oder beteiligten die Belegschaft am Gewinn aus der Produktion.
Als Vertreter dieser patriarchalischen Betriebspolitik sind z. B. Friedrich Harkort, Alfred Krupp oder Carl Stumm zu nennen.
Alfred Krupp war der Meinung, dass der Arbeitsplatz Geborgenheit und Sicherheit, somit ein Stück Heimat für den Arbeiter sein sollte. Als Gegenleistung verlangte er Pünktlichkeit, Fleiß und Folgsamkeit. Mit folgenden Maßnahmen versuchte er diese Vorstellung durchzusetzen:
§ Schon 1861 baute Alfred Krupp Wohnhäuser in Fabriknähe für seine Werksangehörigen
§ Er bezahlte seinen Arbeitern höhere Löhne
§ Er richtete für seine Mitarbeiter ein vorbildliches Betriebskrankenkassensystem ein, das sie gegen Krankheit und Invalidität absicherte und ihnen eine Altersvorsorge bescherte
"Jeder Arbeiter muss unbedingt treu und folgsam sein, sich in und außerhalb der Fabrik anständig Betragen, pünktlich die Arbeitsstunden halten und durch seinen Fleiß beweisen, dass er die Absicht hat, zum Nutzen der Fabrik zu arbeiten. Wer dies befolgt, hat zu erwarten, dass dem Wert der Arbeit nach auch sein Lohn erhöht wird."1
5.3 Kirchliche Lösungsversuche
Erst lange nach dem Einsetzen der Industrialisierung bezogen die Amtskirchen zum Problem der sozialen Frage Stellung. Aber auch hier, wie im Bereiche der Unternehmer, ging das Wirken von einzelnen Personen aus. Ihre Lösungsversuche entstanden aus christlich-humanitären Gründen und aus Furcht vor einer geistigen und sittlichen Verwahrlosung der Menschen. Vertreter dieser Bewegung waren Willhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, Franz Xaver von Baader und Adolf Kolping. Letzterer kannte die Armut der Arbeiterklasse von klein auf und entschloss sich deshalb als Pfarrer hauptsächlich den Gesellen zu helfen. Auf ihrer Wanderschaft sollte ihnen Unterkunft, Betreuung und geistlichen Beistand gewährt werden. Kolping gründete mehrere katholische Gesellenvereine und das rasche Anwachsen des Kolpingwerkes zeigte, wie wichtig und nützlich diese Institution war.
Papst Leo XIII nahm schließlich zur sozialen Frage Stellung, als sich auch die Kirche dieser Frage nicht mehr entziehen konnte. In seiner Sozialenzyklika "Rerum novarum" stellte er unter anderem folgendes fest.
§ Die soziale Frage ist vorrangig eine sittliche und religiöse Frage und muss deshalb nach religiösen Grundsätzen gelöst werden
§ Die Würde der Arbeiter muss geachtet werden; die Arbeiter dürfen nicht als Produkt oder Handelsware behandelt werden
§ Der Staat ist für angemessenen Lohn und menschenwürdige Arbeitsbedingungen zuständig
§ Den Arbeitern müssen Gewerkschaften und Genossenschaften garantiert werden
Zusammenfassend kann man sagen, dass diese Bemühungen durch die Kirche sehr unterschiedlich in ihrem Wirkungsgrad waren. Die Kirche konnte im Gesamten nicht allzu viel für das Proletariat bewirken. Das Proletariat blieb auch weiterhin schlecht auf die Kirche zu sprechen, weil die Kirche die geforderte gesellschaftliche Gleichberechtigung nicht akzeptierte und sich sehr spät in diesem Konflikt engagierte.
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