(Klaus Zeyringer: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Österreichische Literatur der achtziger Jahre. Francke Verlag, Tübingen 1992.)
In den achtziger Jahren entsteht eine Vielfalt von literarischen Auseinandersetzungen, die mit folgender Kapitelüber¬schrift ge¬kennzeichnet werden kann: \"\'Nicht verdrängen - nicht gewöhnen\': Gegen das Vergessen - gegen die Opfertheorie\" (K. Zeyringer: In¬nerlichkeit und Öffentlichkeit. 1992.)
Die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit läßt sich in einige zentrale Begriffe fassen:
Pflicht:
\"Ich bin nichts gewesen als ein einfacher Soldat. Ich bin zum Dienst in der Armee gezwungen worden. Wie hunderttausend andere.\" (Gerald Szyszkowitz: Puntigam oder Die Kunst des Vergessens. 1988)
Im Stück \"Hoch hinaus\" von Heinz R. Unger zeigt sich, wie bald ehemalige Nazischergen in verantwortliche Positionen im neuen Staat vorrücken: Der aus dem KZ zurückgekehrte Scheifele verfolgt als Kriminalpolizist Kriegsverbrecher. Als er den Nazirichter Beer als \"Nazi-Sau\" beschimpft, nachdem er in das Bezirksgericht, in dem Dr. Beer amtiert, gestürmt ist, wird er vom Polizeidienst suspendiert und ist nun vorbestraft. Die aus dem KZ zurückgekehr¬ten Opfer sind nun die Vorbestraften, während ihre Richter \"sich\'s gerichtet haben\".
Auch in Elisabeth Reicharts \"Komm über den See\" (Erzählung. 1988) sagt Ruth Berger auf der Suche nach ihrer Identität und der Ver¬gangenheit, daß es die schwerste Entscheidung sei,
\"Ich zu sagen, für sich selber die Verantwortung zu übernehmen. Welcher Nationalsozialist hat denn für seine Taten die Verantwor¬tung übernommen? Oder welcher Mitläufer? Oder welcher Soldat? Sie alle berufen sich doch auf Befehlsnotstand, bis zum Staatsober¬haupt. Preisen öffentlich ihre Unmündigkeit: Ich habe doch nur meine Pflicht erfüllt!\" (S.66)
Die Generation der Eltern ist für viele AutorInnen jene der Pflichterfüller. Sie setzen sich damit auseinander, wie den Kin¬dern eine Welt der Pflicht konstruiert und eingeredet wird.
Bedeutsam für die wachsende Auseinandersetzung mit der verdräng¬ten Vergangenheit ist u.a. der Präsidentschaftswahlkampf 1986. Waldheim hat sich im Wahlkampf als oberster Pflichterfüller ver¬kauft und somit Strukturen und Taktiken des Verdrän¬gens deutlich werden lassen. Diese Wahlkampagne hat dadurch aber das Vergessen unmöglich gemacht und eine Diskussion aus¬gelöst, die für die Li¬teratur eine entscheidende Anregung war, sich intensiver und of¬fensiver mit dem Staate Österreich, seiner Vergangenheit und Ge¬genwart, den Normen und Werten der österreichischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. (B. Frischmuth: \"Über die Verhältnisse\". 1987)
Vergessen:
Gegen die Gesellschaft des Vergessens und Verdrängens richteten sich nach der Affäre Frischenschlager-Reder und nach den Bundes¬präsidentenwahlen 1986 viele AutorInnen, um in ihren literari¬schen Texten \"die Dinge beim Namen zu nennen\". Es soll¬te das Er¬innern gegen das Vergessen gestellt werden. (E. Fried: \"Um Klarheit\". Gedichte gegen das Vergessen. 1985) Die Reaktion der Gegenseite war, daß diese Schriftsteller, die auf den Schmutz der Vergangenheit und der Gegenwart zeigten, als Verursacher des Übels, als \"Nestbeschmutzer\" bezeichnet wurden, daß sie eine \"Su¬delkampagne\" gegen den Staat und den demokratisch gewählten Prä¬sidenten führten. (Weitere Anlaßfälle: der \"Fall Hausberger\": Dem Bürgermeister der Tiroler Ge¬meinde Mayrhofen im Zillertal wurde von der österreichischen Widerstandsbewegung 1981 in einer Doku¬mentation vorgeworfen, aktiv an Morden beteiligt gewesen zu sein (war freiwilliges Mitglied der SS; in Holland für die Außenbewachung aller Kon¬zentrationslager zuständig gewesen). Der geklagte Redakteur wurde vom Gericht freigesprochen. Hausberger wies 1984 einen niederländischen Journalisten aus dem Saal: \"Dieser Juden¬journalist muß raus!\" Eine daraufhin erstattete Anzeige wurde von der Staatsanwaltschaft Innsbruck zurückgewiesen. Kein österrei¬chischer Politiker kritisierte Hausberger öffentlich. Fall Peter: Der FPÖ-Vorsitzende Friedrich Peter, ein ehemaliges Mitglied ei¬ner an Kriegsverbrechen schuldigen SS-Formation, sollte 3. Natio¬nalratspräsident werden.)
Elfriede Jelinek: \"Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr\" (1985):
\"Hochgradige SS-Männer und Hitlerjungen (wollen einfach nicht erwachsen werden, die Kerle und Landeshauptleute [...] ar¬beiten heute, zu einer riesigen produktiven Anlage von Vergessen zusam¬mengeschwitzt, daß nur keiner draufkommt. Solche Männer braucht man zu allen Zeiten, damit das Wesen der Gemeinde funktionieren kann.\" (S.153) Sie bezieht sich darin auch auf den Fall des Bür¬germeisters Hausberger.
Erinnern gegen Vergessen:
Die Täter wollen sich nicht erinnern, während die Opfer nicht vergessen können. In \"nachschrift\" zitiert und montiert Heimrad Bäcker (1986) solche Ausreden und \"gedächtnislücken\" der Täter. Nach den auf hundert Seiten angeführten Dokumenten des Grauens, nach Exekutionslisten, Beschreibungen medizinischer Experimente usw. stehen auf einer Seite Aussagen der Kriegsverbrecher, die Bäcker einer Dokumentation über den Auschwitz-Prozeß entnommen hat:
ich kann darauf keine antwort geben
darauf kann ich keine antwort geben
ich erinnere mich nicht
ich habe das nicht erklärt
ich muß sagen ich kann mich nicht erinnern
ich kann mich nicht mehr erinnern
nein
ich hatte nichts mit häftlingen zu tun
ich kann mich dunkel erinnern
[...]
ich kann mich nicht erinnern
ja, rohmaterial
ja, zyklon B (S.111)
Erich Hackl dokumentiert in \"Abschied von Sidonie\" das kurze Le¬ben eines Zigeunermädchens und ihren Weg ins Konzentrati¬onslager. Die Leute, die Sidonie in den Tod schickten, sind sich keiner Schuld bewußt (\"Alle taten, als habe es Sidonie nie gegeben\"; S.118) (vgl. Kopie und Pochlatko/Mittermayr: Abriß S.339).
Zeugenschaft der Literatur:
Die Literatur, die die Wahrheit sagen will, spielt damit auch die Rolle des nachträglichen \"Zeitzeugen\". Die Zeugenschaft bleibe für die Autoren eine moralische Pflicht.
Gerald Szyszkowitz beschreibt in \"Puntigam oder Die Kunst des Vergessens\" die Rolle von Graz beim Anschluß an Deutschland (von den Nazis als \"Stadt der Volkserhebung\" gelobt)
Heinz R. Ungers Trilogie \"Die Republik des Vergessens\" (wurde aber seit der Uraufführung 1980 nicht mehr an österreichi¬schen Bühnen gespielt).
Elisabeth Reichart hat in ihrem ersten Roman \"Februarschatten\" (1984) das kollektive Vergessen zum Thema der Erzählung gemacht (vgl. Kopie): \"die einzige Möglichkeit zu überleben, ist zu ver¬gessen\", formuliert die Mutter, die sie zu ihrer Vergangenheit befragt. Dem versucht sich der Text entgegenzustellen, indem die Erinnerung gesucht wird, Fragen gestellt werden. Stockendes Er¬zählen bedeutet hier auch stockendes Erinnern. In der Erzählung wird das Erinnern, die Wiederent¬deckung der Vergangenheit, zur Aufarbeitung von Ängsten, Schmerzen und Schuld.
Viele AutorInnen stellten die Wahrheit und ihr Wissen gegen die formelhafte Entschuldigung. So Gerald Grassl im Gedicht \"Chor der braven Bürger\", in dem er so eine Kette von Klischeesätzen mon¬tiert (vgl. Textbeispiel). Was die Täter und Mit¬läufer gerne ver¬drängen wollen, kann von den Opfern nicht vergessen werden: \"wenn ich die Augen zumach\', sind\'s da! Ein\'brennt auf d\'Netzhaut, die grauen G\'sichter beim Zählappell, beim Marsch ins Gas und als schwarzer rauch, der aus\'m Krematorium aufsteigt! Nie, nie wer\' ich das vergessen!\" (Unger: Hoch hinaus. 1987, S.165).
Die Zeugenschaft, die für Autoren eine moralische Pflicht bleibe, schreibt György Sebestyén, könne \"auch für die Verfolg¬ten, für die Toten sprechen, die ihre Stimme verloren haben. Wo die Mörder gewaltsam Leben vernichten, vermag das Wort einiges: der Leerraum wird mit der sprachlichen Gestalt der Opfer ausgefüllt\". Damit sei für die Toten wenig getan, \"für die Lebenden viel gewonnen\" (G. Sebestyén : Die dunkle Zeit. PEN-Symposium über das Bild der Jahre 1938-1945 in der Lite¬ratur. 1987).
1980 erscheint Marie-Therese Kerschbaumers Roman \"Der weibliche Name des Widerstands\", worin sie das Schicksal von sieben Frauen im Widerstand, die im KZ ermordet wurden oder verschollen sind, literarisch verarbeitet. Der sprachliche Prozeß der Vergegenwär¬tigung der Vergangenheit wird zugleich zu einem Dokument der ei¬genen Zeit, Faschismus wird als \"Vergangenheit in der Gegenwart\" thematisiert. AutorInnen sehen, was andere übersehen, teilen mit, was andere verschweigen. Literatur ist ein Mittel gegen Verdrän¬gen und Vergessen. Erinnerung wird als Arbeit der Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart gese¬hen, als Arbeit der Erklärung, des Sichtbarmachens von Vergangenem und Gegenwärtigem.
Auffallend ist, daß jene Schleusen der Erinnerung sehr oft von Frauen geöffnet werden, sowohl von Autorinnen als auch von weib¬lichen Figuren in den Texten, so Kerschbaumer, Jelinek, Reichart und Barbara Frischmuth in dem 1990 erschienenem Roman \"Einander Kind\", in dem das Schicksal von vier Frauen aus zwei Generationen erzählt wird, in dem alle Fäden in die Vergan¬genheit führen.
Fragen gegen das Schweigen:
Viele AutorInnen versuchen die Mauer des Schweigens, die vor al¬lem auch von der Elterngeneration errichtet wurde, zu durchbre¬chen. \"Ich habe meine Eltern, meine Lehrer, meine Umgebung immer schweigend über die Vergangenheit erlebt, ich bin folglich auch vergangenheitslos aufgewachsen.\" (Peter Turrini: Es ist ein gutes Land. Texte zu Anlässen. 1986)
Im Roman \"Schattenschweigen oder Hartheim\" (1985) schil¬dert Franz Rieger, daß im oberösterreichischen Hartheim, wo während des NS-Zeit in einer Vernichtungsanstalt für \"unwertes Leben\" Tausende Menschen ermordet werden, die Ereignisse allgegen¬wärtig sind, daß aber darüber geschwiegen wird. Auch der Pfarrer darf nicht reden.
Verharmlosung, Verdrängung:
Ein literarisches Beispiel, wie die Vergangenheit unbewältigt bleibt, zur Anekdote verniedlicht wird und so zur angenehmen Er¬innerung verblaßt, wie in vielen Erzählungen der Älteren aus den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren, ist Ger¬trud Fussene¬ggers Buch \"Der Goldschatz aus Böhmen. Erzählungen und Anekdoten\" (1989).
Beispiele:
Arthur Schnitzler: Professor Bernhardi
Ödön v. Horvath:
Geschichten aus dem Wienerwald
Jugend ohne Gott
(G.Orwell: 1984, Farm der Tiere)
(W.Golding: Herr der Fliegen)
Zuckmayer, Carl: Des Teufels General
St.Zweig: Die Schachnovelle
Ulrich Becher u. Peter Preses: Der Bockerer.
I. Aichinger: Die größere Hoffnung
Th. Bernhard: Heldenplatz
Frank, Anna: Das Tagebuch der Anne Frank. (12.6.42-1.8.44)
Fried, Erich: Lyrik
M.Frisch: Andorra.
E.Hackl: Abschied von Sidonie.
P.Härtling: Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung.
E. Jandl: wien: heldenplatz
M.Th.Kerschbaumer: Der weibliche Name des Widerstands
Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann.
R. Klüger: weiter leben.
H. Lebert: Die Wolfshaut
C.Merz u. H.Qualtinger: Der Herr Karl.
W.A.Mitgutsch: Die Züchtigung
E.Reichart: Februarschatten.
G. Roth: Die Geschichte der Dunkelheit
R.Schindel: Gebürtig
B. Schwaiger: Die Galizianerin.
P.Weiss: Die Ermittlung. \\fL\\i
Filme:
Holocaust: ca. 1979
Gruber, Andreas: Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen.
Material:
Pochlatko/Mittermayr: Abriß
Schulzeit unter Hitler
Beispiel(e):
H. Böll: Was soll aus dem Jungen bloß werden?
Günter Grass: Die Blechtrommel. R.
C.Wolf: Kindheitsmuster. R.
A.Okopenko: Kindernazi. R.
Material:
Pochlatko: Literatur 3, 479ff
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