In erster Linie jedoch und mehr als alles andere klagt Frank Wedekind den gravierenden und folgenschwersten Missstand der sexuellen Aufklärung an. Da Wendla Bergmann nur die halbe Wahrheit über das ,Kinder kriegen' weiß, wehrt sie sich - der Folgen nicht gewärtig - nicht genügend gegen Melchiors Annäherungsversuche auf dem Heuboden: sie wird schwanger. Frau Bergmann will sich ihr "Kind" so behalten, wie es ist. Nun kommt sie aber in den Konflikt, ihr Kind erwachsen werden zu sehen (vgl. I/1). Wendla wird erzählt, der Storch bringe die Kinder. Doch sie ahnt, dass das nicht die volle Wahrheit sein kann; sie schämt sich vor sich selbst und beginnt schon, an ihrem Verstand zu zweifeln (vgl. 29/32ff). Ihre Mutter versucht, die unangenehme Aufklärungsarbeit auf die ältere Tochter abzuwälzen, fürchtet sich aber vor den (wohl zu ehrlichen) Erläuterungen des "Schornsteinfegers" (29/15), den Wendla zu fragen vorschlägt. Wedekind nennt es ein "wahnwitziges Verbrechen [...], die Jugend systematisch zur Dummheit und Blindheit ihrer Sexualität gegenüber anzulernen und zu erziehen, sie systematisch auf den Holzweg zu führen." Die Vermeidung bzw. Verteufelung der Sexualaufklärung veranlasst die Eltern, sie entweder gänzlich zu unterlassen, möglichst weit hinauszuschieben oder einem Vertrauten anzutragen: "Hänschen Rilow hatte als Kind schon alles von seiner Gouvernante erfahren" (11/18ff). Reiche Bürgersleute machen sich mit diesem niederen "Geschäft" der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder nicht die "Hände schmutzig". Für solche Aufgaben ist die Hauslehrerin gut genug. Moritz Stiefel weiß über den Geschlechtsakt (noch) nichts, lediglich, dass ihn seine "Mama unter dem Herzen getragen haben will" (11/6f); er fragt berechtigt: "Wie sollt' ich es wissen?" (11/5) Seine erste Pollution versetzt ihn in "Todesangst" (10/7), er hält sich für "unheilbar" (10/9) und glaubt, er leide "an einem inneren Schaden" (10/10). Im Falle der Jungen, die nicht wissen, wie sie mit ihren "männlichen Regungen" (8/31) umgehen, und wozu diese dienen sollen, spricht Wedekind die inneren Kämpfe ohne Umschweife an:
"Indessen kann ich heute kaum mehr mit irgendeinem Mädchen sprechen, ohne etwas Verabscheuungswürdiges dabei zu denken, und - ich schwöre dir, Melchior, ich weiß nicht was." (11/10ff)
Melchior Gabor musste etwas von der Geschlechtsreife gewusst haben, denn er war "seinerzeit mehr oder weniger darauf gefasst gewesen" (10/14f) und schämte sich lediglich "ein wenig" (10/15). Durch diese direkte Gegenüberstellung der beiden möglichen Voraussetzungen auf den erwachenden Geschlechtstrieb (bei Melchior wissentlich und bei Moritz unwissentlich), gelingt es Wedekind, den entscheidenden Einfluss der Sexualaufklärung und damit die fatalen Folgen der elterlichen Versäumnisse zu kennzeichnen.
Durch seine realistische Darstellung einer Masturbationsszene bricht Wedekind einer neue, von moralischen Ächtung befreite Sicht der Selbstbefriedigung Bahn. In der geschlossenen Anstalt erscheint die Onanie als akzeptierte Gruppenaktivität dargestellt. Statt die allgemeine Verurteilung der Masturbation zu teilen, stellt sich der Autor dieser Abwertung entgegen. Ulrich Vohland ist der Ansicht, die Schüler hätten sich "insofern vom vorherrschenden Kampf gegen die Masturbation und von der Forderung nach vorehelicher sexueller Enthaltsamkeit befreit, als ihre Masturbation frei von Schuldgefühlen und Angst vor der Gesellschaft erfolgt." Diese Feststellung ist aber erheblich einzuschränken und trifft nur auf das Verhalten der Jungen in der Korrektionsanstalt zu. Die enthumanisierte Bezeichnung der Anstaltsinsassen als "Entartung" (57/21) und auch Frau Gabors Überzeugung "Eine Verbrechernatur mag sich in solchen Instituten bessern lassen. [...] Ein gutgearteter Mensch wird so gewiss zum Verbrecher darin,..." (52/13ff) sind Beweis für die gesonderte Behandlung der triebgesteuerten Jungen in der Korrektionsanstalt. Die meisten der Insassen erscheinen als entartete raue Naturen dargestellt (56/34: "Hetz, Packan! Hetz! Hetz! Hetz!"); sie werden nicht am normalen gesellschaftlichen Maßstab gemessen, ihnen werden mehr Freiheiten zugestanden. Hänschen Rilow hingegen, ein Junge in der Gesellschaft, ist wahrlich nicht "frei von Schuldgefühlen und Angst vor der Gesellschaft", er sperrt sich auf dem Abort ein (vgl. 31/30f). Seine Sexualität ist überschattet von der damals verbreiteten Furcht vor den körperlichen Folgeschäden der Masturbation. (vgl. 32/32ff). Dies beruhigt ihn und suggeriert ihm die Natürlichkeit seines Verhaltens. Vohland sieht den Grund für Rilows pervertierte Sexualität (in Form von Kleptomanie, Voyeurismus und Homosexualität) im Tabu der "sexuellen Bezüge zum anderen Geschlecht" . Dies mag wohl ein Grund sein, aber gewiss aber nicht der einzige. Rilow wurde schon "als Kind" (11/19) aufgeklärt, möglicherweise auch ein Grund, dass sich seine Sexualität in fremde Bahnen verirrt, da er in jungen Jahren mit dieser Thematik nicht umzugehen weiß. Außerdem scheinen auch Vater und Bruder sich mit Bildnissen von Schönheiten zu befriedigen. (vgl. 32/32ff). Dies beruhigt ihn und suggeriert ihm die Natürlichkeit seines Verhaltens. Wedekind stellt sich eindeutig auf die Seite der Jugendlichen, die mit ihren sexuellen Trieben umzugehen lernen müssen. Die beiden Liebenden im Weinberg, Hänschen Rilow und Ernst Röbel, bewerten ihre Situation als positiv: "Und jetzt ist alles so schön!" (62/38) Sie sind frei von Schuldgefühlen und akzeptieren ihre Gefühle füreinander. Es ist sicher kein Zufall, dass Wedekind ausgerechnet denjenigen Jungen seine Sexualität frei ausleben lässt, der (mit Moritz Stiefel) um die Versetzung konkurriert und dann auch das Klassenziel erreicht. Er ist im Gegensatz zu Moritz frei von der Unterdrückung seiner Sexualität, kann daher auch eher den schulischen Druck bewältigen bzw. gar abbauen und hat mehr Erfolg. Homosexuelles Verhalten ist ganz offensichtlich von der Gesellschaft nicht gestattet, die Szene findet außerhalb der gesellschaftlichen Ordnung statt - im Weinberg (III/6).
Auch Melchiors sadistischer Traum, in dem er "Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte" (9/21) steht jenseits jeglicher Wertung seitens des Autors. Frank Wedekind lässt seine Jungen eine "normale" polymorphe Pubertät durchmachen, skizziert verschiedene Verhaltensformen und erlaubt sie. Er zeigt dadurch auf, dass die Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die sexuelle Entwicklung ohnehin sehr gering sind. In der damaligen Gesellschaft hingegen war jegliche Ausübung der Sexualität erst ab der Heirat legitim und voreheliche Betätigungen wurden aufs schwerste verurteilt. Wedekind ist da anderer Ansicht. Die Kritik, die er in "Frühlings Erwachen" an der Sexualerziehung übt, ist mit Ausnahme von Wendlas Tod in indirekter Form geäußert. Er prangert nicht direkt die Grundsätze der Eltern an, sondern weist durch schlichte Darstellung auf die Normalität pubertärer Sexualität hin und versucht, den Konflikt, in dem die Jugendlichen stecken, nachfühlbar zu machen.
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