Was sind also die historischen Situationen, in denen Angst als typisches Phänomen Massen ergreift? Bei der Unterscheidung der Schichten der Entfremdung wurde oben schon auf die psychologische Entfremdung eingegangen. Diese bleibt, ganz gleich, in welcher Gesellschaft sich der Mensch bewegt, und kreiert die potentielle Angst, die durch Ich-Aufgabe in der Masse zu überwinden versucht wird. Dabei wird die affektive Bindung an einen Führer erleichtert durch das Geschichtsbild einer falschen Konkretheit, einer Verschwörungstheorie. Aber wann können solche regressiven Massenbewegungen, ergo die potentiellen Ängste, so aktiviert werden, daß sie zu einem Spielball in der Hand der Führer werden? Dazu müssen die anderen Bereiche erläutert werden:
Sozialangst entsteht aus einer Entfremdung von der Arbeit durch eine Trennung vom Arbeitsprodukt. Wird dieser unvermeidliche Prozeß nicht verstanden und akzeptiert, entsteht der Versuch, anstatt einer Beschränkung der Arbeit auf ein Minimum selbige zu \"beseelen\" und wieder zu vermenschlichen. Es bilden sich nostalgische Ideologien heraus, und die Vertreter dieser Gesellschaftsschichten (z.B. des \"Neuen Mittelstandes\") sind besonders anfällig für einen Caesarismus. Darüber hinaus erzeugt der stete gesellschaftliche Wettbewerb, sein destruktiver Charakter aufgrund der Offenbarung ständiger Konkurrenz und Abhängigkeitsverhältnisse, große soziale Ängste. Die ständige Furcht vor Krisen, Degradation und somit sozialökonomischer Not kann ebensolche Massenbewegungen produzieren wie religiöse oder Rassen-Konflikte.
Die soziale Entfremdung ist aber allein nicht ausreichend, sie muß im Zusammenhang mit der politischen Entfremdung gesehen werden. Den Kern dieser Entfremdung bildet eine Form der politischen Apathie: Die Erkenntnis, in einem politisch monopolisierten, starren und ohne Massenbeteiligung agierenden Staatswesen ohne Durchsetzungsmöglichkeit für neue Parteien zu leben. Operiert diese Apathie innnerhalb sozialer Entfremdung, führt sie zur teilweisen Paralysierung des Staates und öffnet, alle Spielregeln verachtend, Wege für caesaristische Bewegungen. Eine solche Bewegung muß aber nach der Machtergreifung schnell handeln und die aktivierten Ängste institutionalisieren, denn ihre affektive Basis ist sehr labil. Die Angst dient also nach dem Machterhalt als Mittel zur Erhaltung der Herrschaft mit Techniken wie Propaganda, Sanktionen und Terror.
Zwar basiert jedes politische System - nach Neumann - auf Angst, aber zwischen den Formen der Angst herrscht ein deutlicher Qualitätsunterschied. Man kann wohl sagen, daß das total repressive System depressive und Verfolgungs-Angst, die halbwegs freiheitliche Ordnung aber Realangst institutionalisiert. Daß es sich dabei um verschiedene Tabestände handelt, wird ersichtlich, wenn man einen Zusammenhang zwischen Angst und Schuld sieht: Es bestehen Angst und ein unbewußtes Schuldgefühl nebeneinander. Ein Führer muß durch das Erzeugen von neurotischen Ängsten die Geführten so eng an sich binden, daß sie ohne ihn nicht mehr bestehen könnten. Deshalb befiehlt er das Begehen von Verbrechen, die aber nach der herrschenden Moral keine Schandtaten, sondern legitime Handlungen darstellen. Das Gewissen des Menschen, das Über-Ich, protestiert jedoch gegen diese falsche Moralität, denn die alten Moralanschauungen können nicht so ohne weiteres vergessen werden. Also muß das Schuldgefühl verdrängt werden und macht die Angst beinahe zu einer panischen, den Menschen immer mehr an seinen Führer als feste Größe fesselnden. Eine solche Angst ist nur einem total repressiven Staatswesen innewohnend und unterscheidet sich deshalb qualitativ grundlegend von jedem anderen politischen System.
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