Ausführung:
In der heutigen Zeit sehen die meisten Menschen Arbeit als notwendiges Übel an. In einem sowjetischen Strafgefangenenlager aber war Arbeit zu haben ein Segen, denn mit einer Beschäftigung konnte man die täglichen Schikanen besser ertragen.
Allerdings kann man Arbeit in einem Arbeitslager nicht mit heutiger Arbeit im Büro vergleichen. Beschäftigung in einem Lager bedeutete schlechte Verpflegung und Knochenarbeit bis an die Grenze der menschlichen Belastungsfähigkeit. Fast immer wurden die Häftlinge zu Bautätigkeiten herangezogen, meist ohne große Sicherheitsvorkehrungen auf der Baustelle zu treffen ( vgl. S. 44 Z. 11 - 14 ).
Schuchow hat, wenn er arbeitet keine Zeit zum Nachdenken. Dies zeigt sich darin, daß die Zeit beim Arbeiten sehr schnell vergeht. Der Mittag war schneller da als Iwan Denissowitsch es erwartet hatte (vgl. S 48 Z.17-23). Dieser Aspekt wird auch dadurch verstärkt, daß die Errichtung der Mauer als Akkordarbeit ohne nennenswerte Pause geschildert wird.
Wichtig ist auch, daß man als Häftling dadurch eine Aufgabe hat. Wie man an Iwan Denissowitsch sehr gut sehen kann nimmt er sich vor, seine Mauer so gut wie möglich zu errichten. "Er sah unter dem Eis schon die fertige Wand vor sich,.. Jetzt war sie Schuchow schon so vertraut als hätte er sie selbst gemauert." ( S. 69 Z.6 - 11), Schuchow versucht seine Arbeit so gut wie möglich zu machen. " Aber Schuchow macht keinen Schnitzer" ( S.70 Z. 27). Der Häftling hat, indem er die Mauer fertigstellen muß (will), eine Aufgabe die er zu erledigen hat, eine Sache für die es sich lohnt auch den folgenden Tag zu überleben.
Zusätzlich zu seiner Aufgabe hat der Häftling mit seiner Arbeit auch Erfolgserlebnisse. Er sieht, daß auch er noch etwas leisten kann, daß er etwas besser machen kann als andere. " Einmal führte er Schuchow vor wie man Ziegelsteine mauert, da lachte Schuchow sich halbtot. Wer einmal mit eigenen Händen ein Haus gebaut hat, der ist ein Ingenieur!" ( S. 73 Z. 20 - 22 ). An der Mauer an der Iwan arbeitet, hat schon jemand vor ihm angefangen sie hochzuziehen, allerdings ist Schuchow der Meinung diese Aufgabe besser bewältigen zu können, als sein Vorgänger. "Vorher hatte hier ein Maurer gearbeitet, der entweder nichts vom Handwerk verstand oder gepfuscht hatte" ( S. 69 Z. 8f ). Des weiteren weiß Schuchow ,daß sie viel arbeiten, was unter den gegebenen Umständen nicht einfach ist. Er kann mit sich zufrieden sein. "Aber sie haben heute viel geschafft - mehr kann man nicht verlangen" ( S. 76 Z. 41f ). Er verliert sein Selbstbewußtsein nicht ganz. Der Häftling hat etwas, woran er sich klammern kann, etwas, das ihm Kraft gibt.
Was ihm und seinem Selbstbewußtsein sicherlich auch sehr gut tut ist, daß er sich wenn er arbeitet ein wenig auf die Stufe des Brigadiers stellt. Der Brigadier ruft ab und zu nach Mörtel und Schuchow ebenso. Wenn Schuchow die Anderen zur Arbeit antreibt, wird er für die anderen auch so etwas wie ein Brigadier (vgl. S. 72 Z. 3 - 6). " Schuchow redet ihn sonst immer mit Andrej Prokofjewitsch an, aber durch die Arbeit steht er jetzt mit dem Brigadier auf einer Stufe" (S. 79 Z. 36-38 ). Schuchow kann sich durch seine zeitweilige Position sogar erlauben ein wenig frech zu sein, aber wichtiger ist, daß Iwan seinen Humor noch nicht verloren hat (vgl. S. 79 Z. 39 - 42 ) , was darauf hindeutet, daß er noch \"Spaß am Leben\" hat.
Ein angenehmer Nebeneffekt der Arbeit besteht sowohl darin, daß die Kälte nicht mehr spürbar wird (vgl. 71 Z.33 ) und auch, daß das Unwohlsein, das Zeichen einer sich ankündigender Krankheit ist, daß es ihn "fröstelte" oder "alle Glieder" ( S. 5 Z. 38) schmerzen, wieder verschwand "Und war nicht krank geworden, hatte sich wieder aufgerappelt." (S. 127 Z. 20f ). Der Grund für die Genesung liegt wohl daran, daß durch die große Anstrengung während der Arbeit die körpereigenen Abwehrkräfte stärker arbeiten und der Mensch weniger anfällig für Krankheiten ist.
Die handwerkliche Leistung hat die Bedeutung für sein Leben im Lager, daß sie ihm die Möglichkeit gibt, einen kleinen Bereich zu haben, in dem er sich auskennt, in den ihm niemand reinreden kann. Sie hilft ihm die schwere Zeit zu überstehen. Durch seine frühere Tätigkeit als Bauer konnte er sich früh an harte körperliche Arbeit gewöhnen. Die Arbeit ist nicht nur eine psychische, sondern auch eine physische Überlebenshilfe. Wenn Schuchow im Lager keine Arbeit hätte, wären seine Überlebenschancen noch geringer, als sie ohnehin schon sind.
Indem Schuchow, auch unter unmenschlichen Bedingungen des Zwangs, sich die Arbeit selbst zu seiner Aufgabe macht, die Wand, die er mauert, als sein Werk betrachtet, schafft er sich selbst einen kleinen Raum der Freiheit. Während des mauerns entgeht Schuchow der ständigen Kontrolle der Aufseher, er kann weitgehend selbstständig seine Aufgabe erledige n. Iwan Denissowitsch Schuchow ist ein gefangener Arbeiter der versucht das Beste aus seiner Situation zu machen.
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