Sieh doch nur erst die prächtigen Bücher an, die der Herr Major ins Haus geschafft haben« (I,1) - in der häuslichen Szene, über der sich der Vorhang zu Kabale und Liebe hebt (1784), hält die Frau des Stadtmusikanten Miller diesen Trumpf ihrem Mann entgegen, als dieser mit Kraftausdrücken von Lutherscher Drastik bezweifelt, daß es dem seiner Tochter Luise den Hof machenden jungen Baron Ferdinand von Walter »pur um ihre schöne Seele zu tun« sei. Wenn Schiller die gute Frau dann aber noch hinzufügen läßt: »Deine Tochter betet auch immer draus«, so schlägt er ein Thema an, das vielleicht das dominante des ganzen Stücks ist, ohne daß es in den ungewöhnlich weit auseinandergehenden Deutungen bisher als solches erkannt worden wäre. Was in dem Satz der Frau Miller durch die pointierte Einführung eines Wortes aus dem Bereich der religiösen Devotion in einen an sich nicht-religiösen Kontext signalisiert wird, ist bei aller Komik jene - nicht zuletzt in der Literatur betriebene - Sakralisierung des Profanen, speziell des Eros, die im deutschsprachigen Raum das entscheidende geistesgeschichtliche Ereignis der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darstellt, für das sich das Kennwort Säkularisation eingebürgert hat. Eine ausgefallene Vermutung? Wohl kaum, wenn man sich etwa erinnert, daß Goethe eins der literarischen Hauptdokumente eben dieser erotischen Sonderform der Säkularisation, seinen Werther, brieflich einmal anstandslos ein »Gebetbuch« genannt hat. Und sinnfälliger als durch die einander entsprechenden Stellen in Schillers Drama und Goethes Brief könnte nicht in die Augen springen, daß die Bedeutung dieses Säkularisationsvorgangs nicht darin besteht, daß das Profane einfach das Sakrale, im Bereich der Literatur also die weltliche Dichtung einfach die religiöse ablöste, sondern darin, daß das Profane die Funktionen des Sakralen, die weltliche Literatur die Funktionen der Erbauungsliteratur übernimmt und weiterführt: man liest jetzt Romane wie früher die Bibel; eben das imponiert der Millerin, während ihr Mann es für »gottlos« hält (I,3).
Denn von was für Büchern ist doch die Rede? Von jener säkularen Belletristik offenbar, die in der Zeit, als Schiller schreibt, auf dem Buchmarkt einen ungeheuren Aufschwung nimmt in dem Maße, wie die Erbauungsschriftstellerei zurückgeht. Gegen das Lesen an sich hat der alte Miller sicherlich nichts; die Bibel, das Gesangbuch, der fromme Traktat wären ihm schon recht; die weltlichen Bücher - aus »der höllischen Pestilenzküche der Bellatristen« - sind es, die er verdammt, und das deswegen, weil sie, wie auf der Buchmesse, die christlichen verdrängen und so die Werte der christlichen Lebensführung unterminieren. »Ins Feuer mit dem Quark. Da saugt mir das Mädel - weiß Gott, was als für? - überhimmlische Alfanzereien ein, das läuft dann wie spanische Mucken ins Blut und wirft mir die Handvoll Christentum noch gar auseinander, die der Vater mit knapper Not soso noch zusammenhielt« (I,1). Mit dem Hinweis auf die aphrodisischen Spanischen Fliegen wird vollends deutlich, was für Bücher es sind, durch die der kleinbürgerliche Hausvater die kirchlich behütete Wohlanständigkeit seiner Tochter so akut gefährdet sieht. Und gefährlich werden sie nicht etwa oder doch nicht in erster Linie durch die krasse Sexualität, an die die derbe Bildlichkeit seiner Rede denken läßt, sondern durch ihre »überhimmlischen Alfanzereien«.
Was kann das aber anderes bedeuten als die - wie man damals sagte - »enthusiastische« Überhöhung des Eros zum quasi-religiösen Erlebnis? Auch diese Stelle bedeutet daher nicht so sehr, daß die orthodoxe Gläubigkeit, in der Luise als Tochter ihres Vaters aufgewachsen ist, verdrängt würde durch eine diesseitige Lebensorientierung, sondern daß sie ersetzt und sogar übertrumpft wird durch eine weltliche Anschauung, die sich ihrerseits alle Weihen der Religion gibt, ja die Weihen einer höheren Religion - nicht nur himmlisch, sondern »überhimmlisch«. So ungefähr muß der Alte es aus dem Mund seiner Tochter vernehmen, wenn sie, aus der Kirche kommend, ihn mit seinen eigenen Denkformen von der religiösen Dignität des Profanen, nämlich ihrer Liebe zu Ferdinand, zu überzeugen versucht: »Wenn meine Freude über sein Meisterstück mich ihn selbst übersehen macht, Vater, muß das Gott nicht ergötzen?« (I,3) Woraufhin Miller, die Scheinlogik der säkularen Frömmigkeit durchschauend, sich mit einem »Da haben wirs!« unmutig in den Stuhl wirft: »Das ist die Frucht von dem gottlosen Lesen.« Luise scheint ihre Belletristik gut zu kennen. Welche Werke es genauer sind, die Ferdinand ihr mitgebracht hat, verrät Schiller zwar nicht. Aber seine eigene Lektüre, Arbeitslektüre sozusagen, während der Entstehungszeit von Kabale und Liebe darf man als Fingerzeig auffassen, der uns, wenn wir ihn nur recht verstehen, direkt in das Sinnzentrum des Dramas weist (was man andrerseits von den eigentlichen >Vorlagen<, von Emilia Galotti bis zu Gemmingens Deutschem Hausvater und J. C.
Brandes Landesvater, nicht behaupten kann). Mitten aus der Arbeit an der Louise Millerin, wie das »neue Trauerspiel«, das 1784 als Kabale und Liebe erscheinen wird, damals noch heißt, schreibt Schiller am 9. Dezember 1782 aus Bauerbach bei Meiningen (wo er nach dramatischer Flucht aus dem Herrschaftsbereich des nur unvollkommen aufgeklärten Despoten Karl Eugen ein Refugium gefunden hatte) dem Meininger Bibliothekar W. F. H. Reinwald einen Brief, in dem er unter anderem um Shakespeares Othello und Romeo und Julia bittet.
Offensichtlich sieht er einen Zusammenhang zwischen diesen Stücken und dem Liebes- und Eifersuchts-Drama, das er unter der Feder hat; für das zweite bestätigt er das ausdrücklich, wenn er zwei Wochen später Reinwald mahnt: »Sie werden mir einen Dienst erzeigen, wenn Sie mir die Romeo und Juliette mit dem bäldisten verschaffen, weil ich etwas daraus zu meinem St[ück] zu schlagen gedenke.« Etwas - aber was? Vielleicht dasselbe, was er im Othello brauchbar fand, da er die beiden Stücke doch im gleichen Atem nennt und beide unverkennbar ihre Spuren hinterlassen haben im thematischen Gefüge von Kabale und Liebe? Was ihn an Othello interessierte, deutet er in den Philosophischen Briefen in dem spätestens gleichzeitig mit Kabale und Liebe entstandenen Abschnitt über die »Theosophie des Julius« unmißverständlich an: »Eine Regel leitet Freundschaft und Liebe«, lesen wir dort. »Die sanfte Desdemona liebt ihren Othello wegen der Gefahren, die er bestanden; der männliche Othello liebt sie um der Träne willen, die sie ihm weinte.« Der Passus, in dem dies steht, ist »Liebe« überschrieben; Liebe aber bedeutet im Zusammenhang der dort entwickelten Philosophie des »Enthusiasmus« tatsächlich nichts geringeres als säkularisierte Religion. Denn Liebe ist eine Beziehung zu jenem Göttlichen, das die Welt im Innersten zusammenhält, ist ein »himmlischer Trieb«, »die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend«, und »wenn sie nicht ist«, ist »die Gottheit« aufgegeben und mit ihr alles, was der Religion heilig ist, einschließlich der Unsterblichkeit. Um solche Liebe - die säkularisierte Religion der Liebe - geht es auch in Shakespeares Othello, meint Schiller, und sicher nicht zu unrecht.
Sind die Liebenden in dieser Tragödie doch überzeugt, »der Himmel« habe sie füreinander »gemacht« (I,8), und ist die Liebe dort doch der einzige und absolute Wert, der als solcher zugleich mit der Aura des Transzendenten umgeben wird. Ein besseres Beispiel noch für diese Thematik der »Theosophie des Julius« wäre die Tragödie der »star-crossed lovers« gewesen, die Schiller für Kabale und Liebe offenbar noch wichtiger war als Othello und deren Beziehung zu Kabale und Liebe denn auch sichtlich noch enger ist. Nicht zufällig ist Romeo and Juliet ja eins der frühen Kardinalbeispiele für jene Thematik der Sakralisation der Liebe, die, wie es scheint, in Kabale und Liebe zwar im verborgenen, aber desto mächtiger wirkt. Das spürt man selbst noch in der Wielandschen Übersetzung, die Schiller (mit dessen Englisch es nicht weit her war) benutzt hat. Gleich als Romeo und Juliette sich begegnen, klingt dieser Ton der erotischen Ersatz-Religion auf, die Petrarca die Renaissance gelehrt hatte: Romeo verwendet betontermaßen religiöses Vokabular, um sein Entzücken über die junge Capulet in Worte zu fassen: »Wenn meine unwürdige Hand diesen heiligen Leib entweiht hat, so laß dir diese Busse gefallen: Meine Lippen, zween erröthende Pilgrimme, stehen bereit den Frefel, mit einem zärtlichen Kuß abzubüssen.« Juliette antwortet im gleichen Stil: »Ihr thut eurer Hand unrecht, mein lieber Pilgrim; sie hat nichts gethan, als was die bescheidenste Andacht zu thun pflegt; Heilige haben Hände, die von den Händen der Wallfahrenden berührt werden, und Hand auf Hand ist eines Pilgrims Kuß.
« Und weiter wird dies Motiv des säkularen »Betens« - Luise Millerin »betete« aus den weltlichen Büchern, die Ferdinand ins Haus des kirchenchristlichen Musikus Miller brachte - ausgestaltet mit der anschließenden Wechselrede: »Juliette. Heilige rühren sich nicht, wenn sie gleich unser Gebet erhören. Romeo. O so rühre du dich auch nicht, indem ich mich der Würkung meines Gebets versichre - (Er küßt sie.)« (I,6). Mag das noch nach concettistischer Spielerei klingen, so präludiert dieses preziöse Wortgefecht doch schon ganz entschieden das alles andere als spielerisch gemeinte religiöse Vokabular der Balkonszene das dort ebenfalls das Weltliche, die Liebe, sakralisiert, wenn Romeo seine »theure Heilige« anredet: »O, rede noch einmal, glänzender Engel! Denn so über meinem Haupt schwebend scheinst du diesen Augen so glorreich als ein geflügelter Bote des Himmels den weitofnen emporstarrenden Augen der Sterblichen« (II,2).
Dem korrespondiert Juliettes spätere Bemerkung: »Jede Zunge, die meines Romeo Namen ausspricht, ist die Zunge eines Engels für mich« (III,4). »Der Himmel ist da, wo Juliette lebt« - ausgerechnet dem Bruder Lorenz, dem Mönch, sagt Romeo dies, wodurch die Säkularisation effektiv Blasphemie wird (III,5). Fällt es uns da nicht wie Schuppen von den Augen: das Vokabular der Sakralisierung des Erotischen in Shakespeares Liebes- und Eifersuchtsdramen stimmt wörtlich überein mit dem in Kabale und Liebe bevorzugten. Versuchen wir das als einen Wink aufzufassen, daß Schiller, indem er eine Affinität jedenfalls zwischen der Romeo and Juliet-Tragödie und seinem Ferdinand-und-Luise-Drama wahrnahm, in seinem eigenen Werk (das ihm übrigens bei den frühsten Rezensenten den Titel des »Shakespeare der Deutschen« einbrachte) die Sakralisierung des Profanen oder die Säkularisation des Religiösen am Paradigma der Liebe thematisiert habe. Eine gewisse Ermutigung, dem zunächst hypothetischen Gedanken etwas weiter nachzugehen, finden wir in dem Umstand, daß das zeitgenössische Publikum Kabale und Liebe nicht zuletzt darum mit hochgezogenen Augenbrauen aufnahm, weil es sich an den »gotteslästerlichen Ausdrücken« stieß. Und das nicht von ungefähr, denn die Sakralisierung des Eros zum »heiligen Gefühl« war ja die besondere Form der Säkularisation oder der Vergöttlichung des Menschen, die in der deutschen Literatur der siebziger und achtziger Jahre bei der rebellisch »shakespearisierenden« jungen Generation geradezu Mode geworden war.
Ein Stichwort für diese Heiligsprechung der Liebe hatte Rousseau gegeben, als er die Nouvelle Héloïse dahin interpretierte, daß »der Liebesenthusiasmus sich der Sprache der religiösen Andacht bedient. Er sieht nur noch das Paradies, Engel, die Tugenden der Heiligen, die Seligkeiten des himmlischen Aufenthaltes.« Alle diese religiösen Metaphern für die weltliche Liebe (dazu noch Heiligtum, Reliquie, Segen, Gebet usw.) kehren dann z. B. in der Liebesdichtung und in den Liebesbriefen des jungen Goethe immer wieder.
»Heilige Liebe« lautet seine Abbreviatur dieses weltlichen Kults. Die empfindsamen unter den Zeitgenossen wirken daran lebhaft mit; nur an Johann Martin Millers Siegwart sei erinnert. Wenn die ältere Generation darüber die Hände über dem Kopf zusammenschlug, es »Schwärmerey«, romanhaft oder auch gotteslästerlich nannte, so entging ihr allerdings, daß die literarischen Werke dieser jungen Leute hier und da selbst schon einen Schritt über das weltliche Hosianna hinausgingen und die Problematik der neuen Weltanschauung zum Thema erhoben. Während Novalis noch in schöner Ahnungslosigkeit Liebe als Religion definierte in seiner bekannten Äußerung, er habe »zu« seiner Geliebten »Religion«, so explorierten geniezeitliche Werke schon die Gefahren der Liebesreligion: Werther etwa und Das leidende Weib, Lenore und nicht zuletzt der Roman Beyträge zur Geschichte der Liebe aus einer Sammlung von Briefen (1778) - dessen anonymer Verfasser sich als Jakob Friedrich Abel herausstellt, der Stuttgarter Philosophielehrer des jungen Schiller, dem dieser weltanschaulich derart Entscheidendes verdankt, daß man ihn seinen »Erwecker« genannt hat. Ist nicht auch Kabale und Liebe in diese Reihe zu stellen? Weist die rhetorisch übersteigerte, hyperbolische Sprache der Liebenden (die zeitgenössische Kritik spricht von dem »Galimathias« der »überspanntesten Karaktere«) nicht ebenso deutlich auf die exaltierte Liebesmetaphysik der »Schwärmer«, wie die sich allmählich entwickelnden Spannungen zwischen den Liebenden und der sich daraus ergebende oder doch damit korrelierte Handlungsverlauf auf eine kritische Artikulation dieser Liebesmetaphysik deuten? Man darf die Frage versuchsweise bejahen. Kurz vorweggenommen: die in der idealistischen Liebesreligion.
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