Schauplatz dieses Romans ist ein polnisches Ghetto, ähnlich dem, in dem der etwa 1937 geborene Becker selbst aufwuchs. (Der 30.9.1937 ist ein später angenommenes Geburtsdatum von Jurek Becker. Um ihn zu retten, hatte sein Vater ihn im Ghetto Litzmannstadt als älter registrieren lassen als er war, nach dem Krieg waren seine amtlichen Geburtsdokumente verschollen).
Jakob Heym hört durch Zufall in einem Polizeirevier der Deutschen, das normalerweise kein Jude lebendig wieder verlassen hat, die Nachricht, die fortan das Leben im Ghetto verändern sollte: \"In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren Truppen, den bolschewistischen Angriff zwanzig Kilometer vor Bezanika zum Stehen zu bringen.\" (S. 14) Das Ende des Krieges ist in Sicht!
Da ihm sein verzweifelter Freund Mischa die wahre Geschichte, dass er diese sensationelle Meldung im allseits gefürchteten Revier zufällig aufgeschnappt habe, nicht glauben will, beginnt Jakob zu lügen, um glaubwürdig zu sein: \"Ich habe ein Radio!\" (S. 32). Diese erste Lüge entfaltet eine Dynamik, in die sich Jakob Heym immer tiefer verstrickt und in der er sehenden Auges Kopf und Kragen riskiert. Die anderen Ghettobewohner schöpfen durch diese Nachricht wieder Hoffnung, die Selbstmordrate im Ghetto sinkt rapide gen Null.
Jakob, dieser Überbringer der glücklichen Nachricht, ist \"seit gestern ... ein Glückpilz, ein Auserwählter, alles reißt sich um ihn, die Riesen wie die Kleinen, jeder will mit ihm arbeiten, mit dem Mann, der eine direkte Leitung zu Gott hat.\"
Der \"Glückspilz\" kommt zunehmend in die Bedrouille. Um nicht aufzufliegen und seine Glaubwürdigkeit zu bewahren, muss er täglich neue Nachrichten erfinden, zugleich bringt er mit all den Lügen nicht nur sich, sondern auch die anderen in Gefahr. Wer ein Radio besitzt oder Meldungen weitergibt, muss im Ghetto mit der Todesstrafe rechnen:
Die einen fiebern nach Neuigkeiten, was ist letzte Nacht geschehen, wie hoch sind die Verluste auf jeder Seite, keine Meldung ist so klein, daß man aus ihr nicht dieses oder jenes schlußfolgern könnte. Und die anderen haben genug gehört, die Partei von Frankfurter, für sie ist dieses Radio eine Quelle ständiger Gefahr. ... In Eurer Einfalt redet ihr euch um Kopf und Kragen, warnen sie, die Deutschen sind nicht taub und nicht blind.
Als ihm wieder einmal einer der Warner ins Gewissen redet, enthüllt Jakob die Wahrheit seiner Lüge:
Bleiben Sie mir doch vom Leib mit Ihrem ,trotzdem\'! Genügt es Ihnen nicht, daß wir so gut wie nicht zu fressen haben, daß jeder fünfte von uns im Winter erfriert, daß jeden Tag eine halbe Straße zum Transport geht? Das alles reicht noch nicht aus? Und wenn ich versuche, die allerletzte Möglichkeit zu nutzen, die sie davon abhält, sich gleich hinzulegen und zu krepieren, mit Worten, verstehen Sie, mit Worten versuche ich das! Weil ich nämlich nichts anderes habe. Da kommen sie mir und sagen, es ist verboten.
Mit der Erinnerung an Beckers Roman soll hier selbstverständlich nicht für erlogene Nachrichten plädiert werden. Allein, für diese Opfer des totalitären Naziterrors ermöglicht die Lüge das einzig wahre Leben im Falschen.
Zugleich macht der Roman deutlich, dass die Glaubwürdigkeit einer Nachricht mit der Glaubwürdigkeit der Quelle der Nachricht steht und fällt. Er zeigt aber auch auf drastische Weise, welche Bedeutungsmacht und Suggestivkraft die scheinbar überpersönlichen, \"objektiven\" Medien besitzen.
Becker lässt Mischa, den Freund Jakob Heyms, als er sich wundert, dass seine Freunde angesichts der guten Nachricht nicht in Jubel ausbrechen, begreifen:
Im ersten Moment hab ich gedacht, sie brauchen vielleicht etwas Zeit, um es zu begreifen, .... aber dann war mir klar, daß sie keine Zeit brauchen, sondern Gewißheit. Es ist mir doch genauso gegangen, ich hab doch auch gedacht, daß Jakob mich bloß vom Kartoffelwagen ablenken will, so lange hab ich das doch gedacht, bis er mir die ganze Wahrheit gesagt hat, woher er es weiß.
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