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deutsch artikel (Interpretation und charakterisierung)

Johann gottfried seume spaziergang nach syrakus


1. Drama
2. Liebe

ROM Nun bin ich wieder hier in dem Sitz der heiligen Kirche, aber nicht in ihrem Schoße. Wie Schade das ist; ich habe so viel Ansatz und Neigung zur Katholizität, würde mich so gern auch an ein Oberhaupt in geistlichen Dingen halten, wenn nur die Leute etwas leidlicher, ordentlich und venünftig wären. Meiner ist der Katholizismus der Venunft, der allgemeinen Gerechtigkeit, der Freiheit und Humanität; und der ihrige ist die Nebelkappe der Vorurteile, der Privilegien, des eisernen Gewissenszwanges. Ich hoffte, wir würden einst zusammenkommen; aber seit Bonapartes Bekehrung habe ich für mich die Hoffnung sinken lassen. Dank sei es der Frömmelei und dem Mamelukengeist des großen französischen Bannerherrn, die Römer haben nun wieder Überfluß an Kirchen, Mönchen, Banditen. Er hat uns zum wenigsten wieder einige hundert Jahre zurückgeworfen. Homo sum - sagt Terenz; sonst könntest Du leicht fragen, was mich das Zeug anginge. Aber ich will den Faden meiner Wanderschaft wieder aufnehmen.
Den letzten Tag in Neapel besuchte ich noch den Agnano und die Hundsgrotte. Schon Füger in Wien hatte mich gewarnt, ich möchte mich dort in Acht nehmen: allein im Mai, dachte ich, hat so ein Spaziergang wohl nichts zu sagen. Der Morgen war drückend schwül, und über der Solfatara und dem Kamaldulenser Berge hingen Gewitterwolken. Alles ist bekannt genug; ich wollte nur aus Neugier das Lokale sehen und weiter keinen Hund auf die Folter setzen. Nachdem ich aber ungefähr ein Stündchen am See herumgewandelt war und mir die Lage besehen hatte, ward mir der Kopf auf einmal sonderbar dumpf und schwer, und ich eilte, daß ich durch die Bergschlucht wieder heraus kam. Es war ein eigenes furchtbares Gefühl, als ob sich alle flüssigen Teile mischten und die festen sich auflösen wollten. So wie ich mich von der Gegend entfernte, kehrte mein heller Sinn zurück, und es blieb mir nur eine gewisse Schwere und Müdigkeit von der Wärme. Eine eigene Erscheinung in meinem Physischen war es mir indessen, als ich gleich nachher in einem Wirtshause nicht weit von Posilippo aß, daß ich mir an einer eben nicht harten Kastanie auf einmal drei Zähne bis fast zum Ausfallen locker biß. Der Agnano und die Hundsgrotte kosten dich ein wenig zu viel, dachte ich, und tat schon Verzicht auf meine drei Vorderzähne. Aber Veränderung der Luft und etwas Schonung haben sie bis auf einen wieder ziemlich festgemacht; und dieser wird sich hoffentlich auch wieder erholen.
Will er nicht, nun so will ich ihn der Hundsgrotte opfern.
Von Rom nach Neapel war ich zu Fuße gegangen: von Neapel nach Rom fuhr ich der Schnelligkeit wegen mit dem neapolitanischen Kourier. Noch die Nacht fuhrn wir über Aversa nach Kapua, und den Tag von Kapua nach Terracina. Anstatt einer attellanischen Fabel erzählte man uns in Aversa als wahre Geschichte, daß eben die Räuber vom Berge heruntergekommen wären und einen armen Teufel um sechszig Piaster erschlagen hätten. In Fondi stahl ich mich mit etwas bösem Gewissen voraus, weil ich dem Herrn Zolleinnehmer nicht gern in die Hände fallen wollte. Dieser Herr hatte nämlich auf meiner Hinreise einen sehr großen Gefallen an meinem Seehundstornister bekommen, wollte ihn durchaus haben, und bot mir bis zu drei goldnen Unzen darauf. Ich wollte ihn nicht missen, hatte seiner Zudringlichkeit aber doch einige Hoffnung gemacht, wenn ich zurückkäme: und jetzt wollte ich ihn ebensowenig missen. Wer bringt nicht gern Haut und Fell und alles wieder heil mit sich zurück? Durch die Pontinen ging es diesmal die Nacht, welches ich sehr wohl zufrieden war. Der Morgen graute, als wir in Veletri eintrafen. Nun kam aber eine echt italienische Stelle, über der ich leicht hätte den Hals brechen können. Ich habe die Gewohnheit, beständig vorauszulaufen, wo ich kann. Zwischen Gensano und Aricia ist eine schöne Waldgegend, durch welche die Straße geht. Oben am Berge bat der Postilion, wir möchten aussteigen, weil er vermutlich den Hemmschuh einlegen wollte, und am Wagen etwas zu hämmern hatte. Der Offizier blieb bei seinen Depeschen am Wagen, und ich schlenderte leicht und unbefangen den Berg hinunter in den Wald hinein, und dachte, wie ich Freund Reinhart in Aricia überraschen würde, der jetzt daselbst sein wollte. Ungefähr sieben Minuten mochte ich so formgewandelt sein, da stürzten links aus dem Gebüsche vier Kerle auf mich zu. Ihre Botschaft erklärte sich sogleich. Einer faßte mich bei der Krause, und setzte mir den Dolch an die Kehle; der andere am Arm, und setzte mir den Dolch auf die Brust; die beiden übrigen blieben dispositionsmäßig in einer kleinen Entfernung mit aufgezogenen Karabinern. In der Bestürzung sagte ich halb unwillkürlich auf Deutsch zu ihnen: Ei so nehmt denn ins Teufels Namen alles, was ich habe! Da machte einer eine doppelt gräßliche Pantomime mit Gesicht und Dolch, um mir zu verstehen zu geben, man würde stoßen und schießen, sobald ich noch eine Silbe spräche. Ich schwieg also. In Eile nahmen sie mir nun die Börse und etwas kleines Geld aus den Westentaschen, welches beides zusammen sich vielleicht auf sieben Piaster belief. Nun zogen sie mich mit der vehementesten Gewalt nach dem Gebüsche, und die Karabiner suchten mir durch richtige Schwenkung Willigkeit einzuflößen.

Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 26

Ich machte mich bloß so schwer als möglich, da weiter tätigen Widerstand zu tun der gewisse Tod gewesen wäre: man zerriß mir in der Anstrengung Weste und Hemd. Vermutlich wollte man mich dort im Busche gemächlich durchsuchen und ausziehen, und dann mit mir tun, was man für gut linden würde. Sind die Herren sicher, so lassen sie das Opfer laufen; sind sie das nicht, so geben sie einen Schuß oder Stich, und die Toten sprechen nicht. In diesem kritischen Momente, denn das Ganze dauerte vielleicht kaum eine Minute, hörte man den Wagen von oben herabrollen und auch Stimmen von unten: sie ließen mich also los, und nahmen die Flucht in den Wald. Ich ging etwas verblüfft meinen Weg fort, ohne jemand zu erwarten. Die Uhr saß, wie in Sizilien, tief( und das Taschenbuch stak unter dem Arme in einem Rocksacke: beides wurde also in der Geschwindigkeit nicht gefunden. Die Kerle sahen gräßlich aus, wie ihr Handwerk; keiner war, nach meiner Taxe, unter zwanzig, und keiner über dreißig. Sie hatten sich gemalt, und trugen falsche Bärte; ein Beweis, daß sie aus der Gegend waren, und Entdeckung fürchteten. Reinhart traf ich in Aricia nicht; er war noch in Rom. So hätte ich wohl noch leicht in der schönen klassischen Gegend bleiben können. Dort spielt ein Teil der Aeneide, und nach aller Topographie bezahlten daselbst Nisus und Euryalus ihre jugendliche Unbesonnenheit: nicht eben, daß sie gingen, sondern daß sie unterwegs so alberne Streiche machten, die kein preußischer Rekrut machen würde. Wer wird einen schön polierten, glänzenden Helm bei Mondschein aufsetzen, um versteckt zu bleiben? Herr Virgil hat sie, vermutlich bloß der schönen Episode wegen, so ganz unüberlegt handeln lassen.
Hier in Rom brachte man mir die tröstliche Nachricht, daß zwei von den Schurken, die mich in dem Walde geplündert hätten, erwischt wären, und daß ich vielleicht noch das Vergnügen haben würde, sie hängen zu sehen. Dawider habe ich weiter nichts, als daß es bei der jetzigen ungeheuern Unordnung der Dinge sehr wenig helfen wird. Ich habe hier etwas von einem Manuskript gesehen, das in kurzem in Deutschland, wenn ich nicht irre, bei Perthes, gedruckt werden soll, und das ein Gemälde vom jetzigen Rom enthält. Du wirst Dich wundem, wenn ich Dir sage, daß fast alles darin noch sehr sanft gezeichnet ist. Der Mann kann auf alle Fälle kompetenter Beurteiler sein; denn er ist lange hier, ist ein freier, unbefangener, kenntnisvoller Mann, bei dem Herz und Kopf gehörig im Gleichgewicht stehen. Die Hierarchie wird wieder in ihrer größten Ausdehnung eingerührt; und was das Volk eben jetzt darunter leiden müsse, kannst Du berechnen. Die Klöster nehmen alle ihre Güter mit Strenge wieder in Besitz, die eingezogenen Kirchen werden wieder geheiligt, und alle Prälaten behaupten fürs allererste wieder ihren alten Glanz. Da mästen sich wieder die Mönche, und wer bekümmert sich darum, daß das Volk hungert? Die Straßen sind nicht allein mit Bettlern bedeckt, sondern diese Bettler sterben wirklich daselbst vor Hunger und Elend. Ich weiß, daß bei meinem Hiersein an einem Tage fünf bis sechs Personen vor Hunger gestorben sind. Ich selbst habe Einige niederfallen und sterben sehen. Rührt dieses das geistliche Mastheer? Der Ausdruck ist empörend, aber nicht mehr als die Wahrheit. Jedes Wort ist an seiner Stelle gut, denke und sage ich mit dem Alten. Als die Leiche Pius des Sechsten prächtig eingebracht wurde, damit die Exequien noch prächtiger gehalten werden könnten, erhob sich selbst aus dem gläubigen Gedränge ein Fünkchen Vernunft in dem dumpfen Gemurmel, daß man so viel Lärm und Kosten mit einem Toten mache, und die Lebendigen im Elende verhungern lasse. Rom ist oft die Kloake der Menschheit gewesen, aber vielleicht nie mehr als jetzt. Es ist keine Ordnung, keine Justiz, keine Polizei; auf dem Lande noch weniger als in der Stadt:
und wenn die Menschheit nicht noch tiefer gesunken ist, als sie wirklich liegt, so kommt es bloß daher, weil man das Göttliche in der Natur durch die größte Unvernunft nicht ganz ausrotten kann.
Du kannst denken, mit welcher Stimmung ein vernünftiger Philanthrop sich hier umsieht. Ich hatte mich mit einer bittern Philippika gerüstet, als ich wieder zu Borgia gehen wollte. Nil valent apud Vos leges, nil justitia, nil boni moros; saginantur sacerdotes, perit plebs, caecutit populus; vilipenditur quodcunque est homini sanctum, honestas, modestia, omnis virtus. Infimus et improbissimus quisque cum arrris per oppida et agros praedabundus incedit, furatur, rapit, trucidat, jugulat, incendia miscet. Haec est illa religio scilicet, auctoris ignominia, rationis opprobrium, qua Vos homines liberos et viros fortes adservitia et Iatranes detrudere conamini. *
So gor es, und ich versichere Dich, Freund, es ist keine Silbe Redekunst dabei. Aber gesetzt auch, ein Kardinal hätte das so hingenommen, warum sollte ich dem alten, guten, ehrlichen Manne Herzklopfen machen? Es hilft nichts; das liegt schon im System. Man wird schon Palliativen finden; aber an Heilung ist nicht zu denken. Die Herren sind immer klug wie die Schlangen; weiter gehen sie im Evangelium nicht. Die neuesten Beweise davon kannst Du in Florenz und Paris sehen. Ich ging gar nicht zu Borgia, weil ich meiner eigenen Klugheit nicht traute.
Überdies hielt mich vielleicht noch eine andere Kleinigkeit zurück.
Die römischen Vornehmen haben einen ganzen Haufen Bedienten im Hause und geben nur schlechten Sold. Jeder Fremde, der nur die geringste Höflichkeit vom Herrn empfängt, wird dafür von der Valetaille in Anspruch genommen. Das hatte ich erfahren.


Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 27

Nun kann man einem ganzen Hausetat doch schicklich nicht weniger als einen Piaster geben; und so viel wollte ich für den Papst und sein ganzes Kollegium nicht mehr in Auslage sein.
Ich will das Betragen der Franzosen hier und in ganz Unteritalien nicht rechtfertigen: aber dadurch, daß sie die Sache wieder aufgegeben haben, ist die Menschheit in unsägliches Elend zurückgefallen. Ich weiß, was darüber gesagt werden kann, und von wie vielen Seiten alles betrachtet werden muß: aber wenn man schlecht angefangen hat, so hat man noch schlechter geendiget; das Zeugnis wird mit Zähneknirschen jeder rechtliche Römer und Neapolitaner geben. Geschichte kann ich hier nicht schreiben. Durch ihren unbedingten, nicht notwendigen Abzug ist die schrecklichste Anarchie entstanden. Die Heerstraßen sind voll Räuber; die niederträchtigsten Bösewichter ziehen bewaffnet im Lande herum. Bloß während meiner kurzen Anwesenheit in Rom sind drei Kouriere geplündert und fünf Dragoner von der Begleitung erschossen worden. Niemand wagt es mehr, etwas mit der Post zu geben.
Der französische General ließ wegen vieler Ungebühr ein altes Gesetz schärfen, das den Dolchträgern den Tod bestimmt, und ließ eine Anzahl Verbrecher vor dem Volkstore wirklich niederschießen. Die Härte war Wohltat; nun war Sicherheit. Jetzt trägt jedermann wieder seinen Dolch und braucht ihn. Die Kardinäle sind immer noch in dem schändlichen Kredit als Beschützer der Verbrecher. Man erzählt jetzt noch Beispiele mit allen Namen und Umständen, daß sie Mörder in ihren Wagen aus der Stadt in Sicherheit bringen lassen. Über öffentliche Armenanstalten bei den Katholiken ist schon viel gesagt. Rom war auch in dieser Rücksicht die Metropolis. Jetzt sind durch die Revolution fast alle öffentliche Armenfonds wie ausgeplündert, und die Not ist vor der Ernte unter der ganz armen Klasse schrecklich. In ganz Marino und Albano ist keine öffentliche Schule, also keine Sorge für Erziehung; in Rom ist sie schlecht. Der Kirchenstaat ist eine Öde rund um Rom herum, deswegen erlaubt aber kein Güterbesitzer, daß man auf seimen Grunde arbeite. Das Feudalrecht könnte in Gefahr geraten. Wenn er nicht geradezu hungert, was geht ihn die Hefen des Romulus an? Die Möncherei kommt wieder in ihren krassesten Flor, und man erzählt sich wieder ganz neue Bubenstücke der
Kuttenträger, die der Schande der finstersten Zeiten gleich kommen. Man sagt wohl, Italien sei ein Paradies von Teufeln bewohnt: das heißt der menschlichen Natur Hohn gesprochen. Der Italiener ist ein edler, herrlicher Mensch; aber seine Regenten sind Mönche oder Mönchsknechte; die meisten sind Väter ohne Kinder: das ist Erklärung genug. Überdies ist es der Sitz der Vergebung der Sünde.
Ich will nur machen, daß ich hinauskomme, sonst denkst Du, daß ich beißig und bösartig geworden bin. Die Partien rundherum sind ohne mich bekannt genug: ich habe die meisten, allein und in Gesellschaft, in der schönsten Jahreszeit genossen. Man kann hier sein und sich wohl befinden, nur muß man die Humanität zu Hause lassen.[...]

Neapel [...]

In Salerne, wo ich seh zeitig ankam, wollte ich die Nacht bleiben, und den folgenden Morgen weiterfahren. Ich wandelte also in der Stadt herum, und bald faßte mich ein Geistlicher bei der Krause, der mir alle Herrlichkeiten seiner Vaterstadt zeigte. Die Kathedrale mit ihren Wundem war das erste. Das Bassin am Eingange, von einem einzigen Stücke gearbeitet, ließe sich wirklich auch in Rom noch sehen. Man zeigte mir eine Menge Gräber von alten Erzbischöfen und Salernitaner Advokaten, die den Leuten gewaltig wichtig waren. Einige schöne alte Basreliefs aus Pästum hat man hier und da mit zur Verzierung neuer Monumente gebraucht. Das Merkwürdigste sind mehrere sehr schöne antike Säulen, die man auch aus Pästum geholt hat. Man rührte mich in das Adyton der Krypte des Schutzpatrons, welches Matthäus ist. Hier stand die statua biformis des Heiligen, die einem Janus ziemlich ähnlich sieht. Bei dieser Gelegenheit wurden mir denn alle Wunder erzählt, die der Apostel zum Heile der Stadt gegen die Sarazenen getan hatte. Es läßt sich wohl begreifen, wie das zuging, und wie irgend ein Spruch von ihm und der Enthusiasmus für ihn so viel wirkten, daß die Ungläubigen abziehen mußten. Und nach der alten Rechtsregel, quod quis per alium - kommt ihm dann die Ehre billig zu. Das wissen die Spitzköpfe unter den Herren gar trefflich zu amalgamieren: die Plattköpfe haben es gar nicht nötig, die nehmen es starkgläubig geradezu. Im Hintergrunde der Krypte stehen noch ein Paar weibliche Heftigkeiten, deren Namen ich vergessen habe, deren Blut aber noch beständig fließt. Ich hörte es selbst rauschen und kann es also bezeugen; ich wagte gläubig keine Erklärung des Gaukelspiels. Unter den vielen Narren war auch ein Vernünftiger, der mir vorzüglich die Säulen aus Pästum alle und von allen Seiten in den schönsten Beleuchtungen zeigte: er drückte mir stillschweigend die Hand als ich fortging. Nun brachte man mich noch mit Gewalt in eine andere Kirche, wo eine schöne Kreuzigung weder gemalt noch gehauen noch gegossen, sondern ins Holz gewachsen war. Mit Hilfe einiger Phantasie konnte man wohl so etwas heraus- oder vielmehr hineinbringen; und die Wunder überlasse ich den Gläubigen. Einige wunderten sich, daß ich doch gar nichts aufschriebe, wie andere Reisende; und einer der jungen Herren, die mich begleiteten, sagte
Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 28

zu meinem Lobe, ich wäre von allem hinlänglich unterrichtet und überzeugt. Da sagte er denn in beidem eine große Lüge. Als ich wegging, bat sich mein Hauptführer, der sich, glaube ich, einen Kastellan des Erzbischofs nannte, etwas für die Armen aus; das gab ich: sodann etwas zu einer Seelenmesse für mich; das gab ich auch. Schadet niemand und hilft wohl; man muß die Gläubigen stärken, lautet das Schibolet, das Goethens Reinecke der Fuchs von seiner Frau Mutter bekommt. Dann bat er sich auch noch etwas für seine Mühe aus.
Dazu machte ich endlich ein grämliches Gesicht und zog noch zwei Karlin hervor. Als ich sie ihm hinreichte, schnappte sie ein Profaner weg, der sich einen Korporal nannte, und von dem ich ebenso wenig wußte, wie er zur Gesellschaft, noch wie er in den Dienst der Kirche gekommen war. Darüber entstand Streit zwischen dem Klerikus und dem Laien. Der geistliche Herr sagte mir ins rechte Ohr, daß der Korporal ein liederlicher Säufer wäre; dieser zischelte mir gelegentlich ins linke, das Mönchsgesicht sei ein Gauner und lebe vom Betruge: ich antwortete beiden ganz leise, daß ich das nämliche glaube und es wohl gemerkt habe. Es ist ein heilloses Leben.

Mein Freund, Du suchest in Salerne
Den Menschensinn umsonst mit der Laterne;
Denn zeigt er sich auch nur von ferne,

So eilen Kutten und Kapuzen,
Der heiligen Verfinsterung zum Nutzen,

Zum dümmsten Glauben ihn zu stutzen.
Da löscht man des Verstandes Zunder,
Und mischt mit Pfaffenwitz des Widersinnes Plunder,
Zum Trost der Schurkerei, zum Wunder:
Und jeder Schuft, der fromm dem Himmel schmeichelt,
Und wirklich dumm ist, oder Dummheit heuchelt,
Kniet hin und betet, geht und meuchelt;
Gewiß, Vergebung seiner Sünden
Beim nächsten Plattkopf lästerlich zu finden.

Ich kann mir nicht helfen, Lieber, ich muß es Dir nur gestehen, daß ich den Artikel von der Vergebung der Sünden für einen der verderblichsten halte, den die Halbbildung der Vemunft zum angeblichen Troste der Schwachköpfe nur hat erfinden können. Er ist der schlimmste Anthropomorphismus, den man der Gottheit andichten kann. Es ist kein Gedanke, daß Sünde vergeben werde:
jeder wird wohl mit allen seinen bösen und guten Werken hingehen müssen, wohin ihn seine Natur rührt. Eine mißverstandene Humanität hat den Irrtum zum Unglück des Menschengeschlechts aufgestellt und fortgepflanzt: und nun wickeln sich die Theologen so fein als möglich in Distinktionen herum, welche die Sache durchaus nicht besser machen. Was ein Mensch gefühlt hat, bleibt in Ewigkeit gefehlt; es läßt sich keine einzige Folge einer einzigen Tat aus der Kette der Dinge herausreißen. Die Schwachheiten der Natur sind durch die Natur selbst gegeben, und die Herrscherin Vemunft soll sie durch ihre Stärke zu leiten und zu vermindern suchen. Der Begriff der Verzeihung hindert meistens das Besserwerden. Gehe nur in die Welt, um Dich davon zu überzeugen. Soll vielleicht dieser Trost großen Bösewichtern zu Statten kommen?
Alle Schurken, die sich nicht bessem können, die von Beichte zu Beichte täglich schlechter, weggeworfener und niederträchtiger werden; diese sollen zum Heile der Menschheit verzweifeln. Jeder soll haben, was ihm zukommt. Die Verzweiflung der Bösewichter ist Wohltat für die Welt; sie ist das Opfer, das der Tugend und der Göttlichkeit unserer Natur gebracht wird. Verzweifle, wer sich nicht bessem, sich nicht vernünftig beruhigen kann; die Vergebung der Sünden kann ich nicht begreifen: sie ist ein Widerspruch, gehört zu den Gängelbändern der geistlichen Empirik, damit ja niemand allein gehen lerne. Man darf nur die Länder recht beschauen, wo diese entsetzliche Gnade im größten Umfange und Unfuge regiert; kein rechtlicher Mann ist dort seiner Existenz sicher. Die Geschichte belegt.
Hier in Salerne erhielt ich einen neuen Führer, der mir sehr problematisch aussah. Er machte mich dadurch aufmerksam, daß ich bei ihm außerordentlich sicher sei, weil er alles schlechte Gesindel als freundliche Bekannte grüßte, und meinte, in seiner Gesellschaft könne mir nichts geschehen. Das begriff ich und war ziemlich ruhig, obgleich nicht wegen seiner Ehrlichkeit. Er hätte mich öffentlich in der Stadt übernommen; es galt also seine eigene Sicherheit, mich dahin wieder zurückzuliefern: weiter hätte ich ihm dann nicht trauen mögen. Wir fuhren noch diesen Abend ab, und blieben die Nacht an der Straße in einem einzelnen Wirtshause, wo sich der Weg nach Pästum rechts von der Landstraße nach Eboli und Kalabrien trennt. Diese Landstraße geht von hier aus nur ungefähr noch vierzig Millien; dann fängt sie an sizilianisch zu werden, und ist nur für Maulesel gangbar. Es war herrliches Wetter; der Himmel schien mir an dem schönen Morgen vorzüglich wohl zu wollen: meine Seele ward lebendiger als gewöhnlich. [...]


Materialiensammlung: Reisen im Spiegel der Literatur Seite 29


Erklärungen:
*Nichts gelten bei Euch die Gesetze, nichts die Gerechtigkeit, nichts gute Gesinnung; die Priester mästen sich, der Pöbel geht zugrunde, das Volk ist blind; für verächtlich gilt alles, was den Mensvhen heilig ist, Ehre, Anstand, jede Tugend. Gerade die Niedrigsten und Nichtswürdigsten gehen in Waffen durch Stadt und Land auf Beute. Dies freilich ist jene Religion, eine Schande gegenüber ihrem Gründer, eine Schmähung der Vernunft, mit der iht versucht, freie Menschen und tapfere Männer in Knechtschaft und Räuberei zu stoßen.


statua biformis: Januskopf: Bildnis mit zwei Blickrichtungen
quod quis per alium: Sprichwort: vollständig: "Was einer durch einen anderen tut, das gilt , als hätte er es selbst getan"
Anthropomorphismus: Vermenschlichung, Vorstellung Gottes in menschlicher Gestalt
Mamelukengeist: Treulosigkeit, Egoismus
Homo sum - sagt Terenz: vollständig:"Mensch bin ich, nicht Menschliches gilt mir als fremd" Zitat aus einer
Komödie
atellanische Fabel: Aufschneiderei, dummes Zeug
Exequien: Trauerfeierlichkeiten für Pius VI

Palliativen: Linderungsmittel
Valetaille: Dienstboten
Hefen des Romulus: Pöbel von Rom

 
 

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