Die rigorosen Ankläger des verstorbenen Moritz Stiefel lässt Wedekind die Realität derart auffällig verdrehen, dass es schon an Ironie grenzt.
"Rektor Sonnenstich. Der Selbstmord als der bedenklichste Verstoß gegen die sittliche Weltordnung ist der denkbar bedenklichste Beweis für die sittliche Weltordnung, indem der Selbstmörder der sittlichen Weltordnung den Urteilsspruch zu sprechen erspart und ihr Bestehen bestätigt.
Professor Knochenbruch. Verbummelt - versumpft - verhurt - verlumpt - und verludert!
Onkel Probst. Meiner eigenen Mutter hätte ich's nicht geglaubt, dass ein Kind so niederträchtig an seinen Eltern zu handeln vermöchte!
Freund Ziegenmelker. An einem Vater zu handeln vermöchte, der nun seit zwanzig Jahren von früh bis spät keinen Gedanken mehr hegt als das Wohl seines Kindes!" (48/29ff)
Wedekind baut eine immense Diskrepanz zwischen der dargestellten Realität und ihrer Wahrnehmung bzw. Bewertung durch die Figuren des Dramas auf. Die Trauergäste sind nicht in der Lage, auf die eigentliche Bedeutungsebene des Vorgefallenen durchzustoßen. Sie interpretieren den Selbstmord als Angriff auf die bestehende Ordnung und entlarven ihre Werthaltung als bloße Phrasendruckerei. In seiner verknöcherten Haltung verdreht der Schulleiter die Bedeutung des Schülerselbstmordes und sieht darin eine Bestätigung der "sittlichen Weltordnung", um Anklagen vorzubeugen. Die Aufhäufung verfluchender Partizipien (fünf mal die Vorsilbe "ver-" zusammen mit dem Selbstlaut "u") des Professor Knochenbruch karikiert den Lehrerstil. Wie auf Knopfdruck sprudeln vorgefertigte Worthülsen aus ihm heraus, die dem eigentlich Geschehenen in keinster Weise gerecht werden. Moritz' Flucht aus der elterlichen Unterdrückung als niederträchtig zu bezeichnen und zu behaupten, der Vater hätte sich nur um das "Wohl seines Kindes" gekümmert, verdreht die Realität vollends. Die Wedekindsche Ironie gewinnt hier noch zynische Qualität, weil die Verdrehung tatsächlich der wahren Haltung der sprechenden Figuren entspricht.
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