4.5.1. "ct201" und warum hat das Drama noch heute Bedeutung
Die Gruppe ct201 ( freie Theatergruppe Köln eV. ) erspielte sich 1995 den Kölner Theaterpreis für die "Iphigenie auf Tauris". Warum befasst sich diese Gruppe also mit einem Stück, dass weit vor ihrer Zeit liegt?
Die Charaktere der Personen, ihre Art zu fühlen und zu denken, der Entwicklungsgang der Handlung und später auch die Lösung des Konflikts weisen auf die Einflüsse unserer heutigen aufgeklärten Gesellschaft hin.
Es zeigt sich also, dass die "Iphigenie" sowohl damals als auch heute Inhalte aufweist, die die Menschen inspirieren soll. Die "Iphigenie" ist ein Stück, dass seine Bedeutung bis heute nicht verloren hat. Zu Zeiten Goethes hat man durch ein noch nicht vollständig aufgeklärtes Publikum die Inszenierung vielleicht verkannt, denn wie an den Reaktionen zum Teil ersichtlich war, fand das Stück nicht die Resonanz, die Goethe schon früher mit beispielsweise dem "Werther" erfahren hatte. "Man hatte mehr erwartet vom Autor des Werther [...]"
Heutzutage wird das Stück überwiegend vom Publikum anerkannt und der Sinn bzw. der Gehalt des Stückes regt zu weitergehenden Überlegungen an. Das wird wohl auch das Ziel der Theatergruppe ct201 gewesen sein, als sie das Stück aufführten: Menschen zu inspirieren, die sich vielleicht ein Stück weit entwickeln in Richtung Ehrlichkeit und dem "Kraftvollen" der Iphigenie.
Goethe wollte seinen Beitrag zur Aneignung des klassischen Erbes leisten. Er selbst hatte jedoch auch seine Zweifel: Als er die "Iphigenie" schrieb, fragte er sich, was wohl die Strumpfwirker von Apolda damit anfangen sollten. Das war 1779.
Heute schreiben wir 2003. Die "Iphigenie" so scheint es, bleibt ein unvergängliches Meisterwerk unseres klassischen Humanismus.
4.5.2. Technische Entwicklung
Im Gegensatz zu heute war der Aufwand ein Theaterstück zu gestalten zur Goethe Zeit
wesentlich größer, da die technischen Hilfsmittel weit entfernt vom heutigen Standart waren.
Früher waren Massenaufzüge gefragt, wie z. B. in dem Stück von Accius
\"Klytämnestra\" in dem über 600 mit Beute beladene Esel über die Bühne zogen
oder es sausten Kampfwagen, Kaleschen (leichter vierrädriger Einspanner),
Lastfuhrwerke hin und her. Es wurden auch Schiffsschnäbel, Elfenbein, Erz,
weiße Elefanten usw. gezeigt. Ebenso ist es heutzutage möglich Lichteffekten ganz andere Bedeutung zukommen zu lassen. So kann die schauspielerische Leistung durch Schatten und farbiges Licht noch untermalt werden und es dem Zuschauer somit ermöglichen die dargestellten Emotionen selbst mitzuerleben.
Das alles war eine große Leistung. Natürlich ist es heute immer noch sehr aufwendig, ein Theaterstück (hinsichtlich der Bühnenausstattung) perfekt zu gestalten und daher nicht abzuwerten. Im Laufe der Zeit sind weitere Effekte wie z. B. Licht Laser, Pyrotechnik, neue Art der Musik, das heißt leistungsstarke Lautsprecher, Mikrophone usw. hinzugekommen, was natürlich Verbesserungen mit sich bringt. Gerade bei der Tontechnik hat sich vieles verändert. So schreibt
Horaz, ein römischer Dichter und Schriftsteller im 17. Jahrhundert v. Chr.:
\"Es scheint, als würden sie das Stück einem tauben Esel vortragen. Denn
welche Stimme wäre wohl kräftig genug, den Lärm zu durchtönen, der unser
Theater durchtöst. Des Garganus Wald meint man brausen zu hören, oder das
Tyrhenische Meer. So groß ist der Krach ... .\" \"Das Vergnügen ist gänzlich von den Ohren
abgewandt, hin zu den unsteten Augen und damit zu nichtigem Genuß.\"
Der Zuschauer konnte damals den Schauspieler schlecht verstehen und mußte vorwiegend auf die Mimik achten. Das hat sich völlig verändert, denn heute kann jeder
Theaterbesucher die Akteure und die hierzu gehörende Hintergrundmusik, wenn
vorhanden, sehr gut verstehen. Dieses ist erst durch die neue Technik, d. h.
entsprechenden Verstärker und Lautsprecher möglich geworden.
Zu Goethes Zeiten war der Chor ein entsprechendes Element um seinen Darstellungen mehr Ausdruck zu verleihen. Er benutzte ihn um Gesänge, aber auch die Leistungen der Schauspieler entsprechend zu unterstützen.
4.5.3. Rezeptionale Veränderung
Publikumsreaktionen:
Fehler von Schauspielern wurden in der Antike entlarvt und durch das Publikum mit
Fußgestampfe, Pfiffen und Geschrei getadelt, bisweilen verstummte der Lärm
nicht eher, bis der ungeschickte Schauspieler die Bühne verlassen hatte.
Einige Zuschauer brachten sich sogar Hirtenpfeifen mit, um besonders laut
ihre Empörung zu zeigen. Diese Art, einen Schauspieler zu tadeln ist in unserer Zeit ausgeschlossen. Wenn heute ein Akteur einen Fehler begeht und es überhaupt dem Publikum auffällt, was häufig nicht der Fall ist, da versucht wird, so zu tun, als ob es so gewollt war und es gar kein Fehler war, wird höchstenfalls nur durch ein Lachen
getadelt oder am Ende des Stückes nicht um eine Zugabe gebeten. Auf keinen
Fall wird der Schauspieler von der Bühne gepfiffen oder Schlimmeres getan.
Falls dem Publikum ein Stück gefallen hat, lobten sie, wie wir auch heute noch, durch die Aufforderung einen Teil zu wiederholen (wie wir heute \"Zugabe\" rufen, wurde damals lat. \"Sophos! gerufen).
Applaus:
Ob ein Schauspieler Unterstützung aus öffentlichen Mitteln bekam, hing
in der Antike einzig und allein von dem Publikumsapplaus ab. Er bedeutete Sein oder
Nichtsein für die einzelnen Darsteller. Daher war es ab dem zweiten
Jahrhundert vor Chr. üblich, Schmiergelder für das Klatschen zu zahlen,
obwohl es verboten war. Das hat sich vollkommen geändert. Heutzutage
verdient ein Schauspieler an Eintrittsgeldern. Der Applaus ist natürlich
auch noch wichtig, da dadurch der Akteur eine Bestätigung bekommt, daß es
den Zuschauern gefallen hat, und so wahrscheinlich das Theaterstück weiter
empfohlen wird. Wenn neue Zuschauer geworben werden können, kommt auch
wieder mehr Geld in die Kassen. Aber eigentlich ist der Applaus heute nicht
mehr so entscheidend wie damals. Wie oben schon erwähnt, war es verboten
Schmiergelder für das Klatschen zu bezahlen. Es wurden extra Kontrolleure
dafür eingestellt, um die Bestochenen zu entlarven. Wenn ein Bestochener
ertappt wurde, wurde diesem im Zuschauerraum die Toga weggenommen. Dem
betrügerischen Schauspieler wurden die gesamte Ausrüstung zerstört und die
Haut verschandelt.
5. Zusammenfassung
Dichter erfreuten sich im Altertum höchster Wertschätzung. Sie galten als musisch gebildete Menschen, die nicht nur ihren Stoff künstlerisch gestalteten, sondern - von schwerer Arbeit unbelastet - auch ihre eigene Persönlichkeit vervollkommnen. Als Träger kultureller Bildungstraditionen waren sie Lehrer des Volkes, beherrschten die Kunstmittel und schienen, wo sie Enthusiasmus hervorriefen und durch sie die Musen sprachen, mit den Göttern in Verbindung zu stehen.
Dass das Gestaltungsmittel der Dichtung, die Sprache, ausdrucksfähiger, beweglicher und reicher ist, als die Mittel der bildenden Kunst, verleiht der Dichtung besondere Wirkung und Bedeutung.
Dass sie wie die bildende Kunst auf der Nachahmung der Wirklichkeit beruht, legt ihr eine gewisse Verpflichtung zur Wahrheit und gesellschaftlichen Verbindlichkeit auf und ermöglicht es ihr, bildend und erzieherisch zu wirken.
Dichtung und Schauspiel vereinigen in sich zwei Funktionen: Bildung und Unterhaltung.
Im Verlauf der Geschichte haben sich deutliche Wandlungen vollzogen: Form und Gehalt vereinigen sich nicht mehr zwingend harmonisch.
Am Beispiel der "Iphigenie" ist jedoch nachweisbar, dass ein klassisches Drama mit Anspruch auf Bildung und Unterhaltung - auch mit 2400 jähriger Geschichte seit seiner Urfassung - etwas in sich tragen kann, dass die Menschen anspricht, d.h. allgemeingültige humanistische Werte in sich tragen und transportieren kann.
Goethes "Iphigenie" wurde sicherlich im Verlauf der Zeit zum Spiegelbild seiner Interpreten. Eine "objektive" Deutung mag es nicht geben.
In unserer durch Informationsgesellschaft - geprägt durch elektronische Kommunikation - wird der Begriff klassisch auf ein breites Spektrum von Werken angewendet, auf Werke von Goethe und Schiller ebenso wie auf Mickey Mouse - Cartoons und Songs der Beatles.
Goethe spiegelt für mich etwas wider, was ich als im besten Sinne als "klassisch" bezeichne.
Die Art der Inszenierung hat großen Einfluß auf die Annahme des Stückes, hier fand natürlich in den letzten zweihundert Jahren ein großer Wandel statt. Dieser Wandel ist sicherlich auf die verbesserten technischen Möglichkeiten zurückzuführen, aber auch auf die Wandlungen im Bewußtsein der Menschen.
Ganz zum Schluß möchte ich noch einmal mit Goethe sprechen:
"So eine Arbeit wird eigentlich nie fertig, man muss sie für fertig erklären, wenn man nach der Zeit und den Umständen das Möglichste getan hat."
|