Kafkas Erzählung stellt die eindeutigen und scheinbar unabänderlichen Verhältnisse in einer kleinbürgerlichen Familie dar, die sich plötzlich auf ungeheuerliche Weise doch ändern. Als sich Gregor, der Sohn, plötzlich in einen überdimensionalen Mistkäfer verwandelt, bringt das außergewöhnliche Veränderungen mit sich.
Man verliert den einzigen Sohn, auf den sich einerseits alle Zukunftspläne stützen, den man andrerseits aber auch schon als selbstverständlich ansieht. Die anerzogene Rücksichtnahme und das Pflichtbewußtsein, mit dem Gregor unter Aufgabe eigener Interessen seine Familie erhält und ihre Schulden tilgt, würdigt sie nicht.
Die schon seit langer Zeit kränkelnde Mutter ist vollkommen geschockt. Dennoch hört sie lange Zeit nicht auf, ihn als ihren Sohn anzusehen. Sie weiß jedoch nicht, daß sein animalisches Äußeres noch ein menschliches Bewußtsein und Verständnis der menschlichen Sprache in sich birgt. Wie auch alle anderen Familienmitglieder unternimmt sie aber keinen Versuch, das in Erfahrung zu bringen.
Die Schwester von Gregor ist dazu verdammt, das Nötigste für ihren \"Bruder\" zu tun. Anfangs ist das kein großes Problem für sie, aber je mehr sich Gregor sich vor ihr verbirgt, desto schlampiger verrichtet sie ihre Arbeit und desto mehr zerbricht sie psychisch an der Pflege, bevor sie einem Dienstmädchen übertragen wird. Die Schwester, die auch vor der Verwandlung dem Bruder am Nächsten gestanden zu sein scheint, macht eine rasche Veränderung durch. Von der anfangs am wenigsten Abgeneigten ist sie zum Ende hin die Erste die den Käfer \"Es\" nennt.
Die nur am Rande vorkommenden Zimmerherren, an die die Eltern zur Geldbeschaffung ein Zimmer vermieten, sind eine komische schreiberische Laune Kafkas, denn sie scheinen keine Metapher zu sein, sondern vielmehr drei annähernd idente Personen, auf die das vorgegebene Bild eines Zimmerherren aufgepreßt wird. Für Kafka müssen sie einfach im Plural auftreten, belanglos ob zwei davon kein einziges Mal zu Wort kommen.
Der Vater, der dem \"Tier\" von Anfang an aggressiv gegenübersteht, nimmt wie auch in \"Das Urteil\" eine bedeutende Position ein. Kurz nach der Verwandlung mag er den Käfer wohl noch immer für Gregor halten, obwohl er ihn verletzt. Aber spätestens kurz vor dessen Tod erkennt er, daß die Probleme der Familie mit dem Untier sich allesamt darauf gründen, daß sie ihn als ihren Sohn bzw. Bruder ansehen.
Man kann die Tiermetapher meiner Meinung nach nur als grotesken zwiespältigen Einfall Kafkas verstehen. Einerseits scheint es eine Strafe für Gregor zu sein, da er seinen Vater als Persönlichkeit an der Spitze der Familie verdrängt hat, andrerseits aber mag Kafka in der Verwandlung zum Käfer auch nur den letzten Ausweg für Gregor sehen und gleichzeitig mit dem Käfer die Figur zeigen, auf die die Familie Gregor im Alltag reduziert, nämlich auf ein primitives Wesen, das sich leicht ausnützen läßt.
Wenn die Verwandlung nach Gregors Wunsch stattgefunden hätte, dann wahrscheinlich deswegen, weil er in seiner perfekten Erziehung seinen Eltern nicht seine Meinung sagen kann. Darum muß eine andere Lösung her, um ihnen zu zeigen, daß er sehr wohl durchschaut hat, daß sie ihn schamlos ausnutzen und dabei auf sein Pflichtbewußtsein vertrauen. Deswegen möchte Gregor sie anscheinend bestrafen und ihnen ein furchtbares Unglück bescheren, seinen eigenen Tod als Befreiung von seinen Mühen ansehend. Wenn dies Kafkas Gedankengang war, dann fügte er in offensichtlichem Sadismus die Tatsache in seine Geschichte ein, daß Gregor in gewisser Weise Gregor bleibt und mit menschlichem Empfinden auf bittere Weise zusehen - denn zu viel mehr ist er nicht fähig - muß, wie ihn seine Familie und insbesondere seine Schwester im Laufe der Zeit mehr und mehr verstößt und er letztlich an einer ihm zugefügten Verletzung und an seinem nicht vorhandenen Appetit stirbt.
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